“Schiffbruch mit Publikum”: Die Woge sind wir selbst

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Ob sie sich auf Antigone vorbereitet hätten, platzt NDR-Reporterin Lisa Knittel in die Runde, Daniela (Dörthe Eickelberg) das Mikrofon unter die Nase haltend. „Auf wen?“ Es ist ungefähr viertel vor acht, ein kalter Kieler Aprilabend, Lisa Knittel ist live auf Sendung im Schleswig-Holstein Magazin und gerade eingetaucht in die fiktive Geschichte des Impro-Cine-Theaterstückes „Schiffbruch mit Publikum“. Sie spielt sich selbst und fragt die bei Fischbrötchen und Wein am Stehtisch Versammelten nach dem aufziehenden Sturmtief, das den Namen der Hauptfigur aus Sophokles´ gleichnamiger Tragödie trägt. Die Runde ist ratlos. „Antigone? Sturmtief? Nix davon gehört. Dabei müsste ich es doch wissen. Ich bin Ozeanograph“, sagt Marius (Richard Sammel) noch. Ach, die Presse, die wieder mal eine Meldung faktisch verkürzt zur Sensation aufbausche, wischt Daniela schließlich das Thema vom Tisch, als die Reporterin ohne brauchbaren O-Ton von dannen ziehen muss. (Hier geht´s zum Beitrag im Schleswig-Holstein-Magazin)

Die live in der regionalen TV-Nachrichtensendung übertragene Szene verleiht dem ohnehin schon komplexen Experiment des Teams um Regisseur Pedro Deltell und Produzent Heiko Michels (https://www.limited-blindness.eu/) noch eine zusätzliche Wirklichkeits- und Wirkungsebene. „Schiffbruch mit Publikum“ ist Improvisationstheater, Live-Performance und Kinofilm in einem. Noch dazu im öffentlichen Raum. Das Publikum ist nur zum Teil freiwillig Publikum. Es befindet sich an unterschiedlichen Orten, und an allen gibt es etwas anderes zu sehen: In der Kieler Innenstadt sehen die Passant:innen einen skurrilen Technik-Tross um die Schauspieler:innen kreisen und können manche ihrer Ausrufe hören („Dem Golfstrom geht´s schlecht!“) Dass es sich um eine improvisierte Szene handelt, ist ihnen nicht ersichtlich. Die Live-Aufnahme von draußen wird ins Kino des Kulturzentrums Pumpe übertragen und ist gleichzeitig per Livestream im Internet zu verfolgen. Die Zuschauer:innen des Schleswig-Holsteins Magazins schließlich werden auch für einen Moment Publikum und sehen zeitgleich dieselbe Szene wie die Menschen im Kinosaal – jedoch aus einer anderen Perspektive, weil mit der Kamera des NDR-Teams gefilmt.

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Der komplexen Form entsprechend behandelt „Schiffbruch mit Publikum“ eine nicht minder komplexe inhaltliche Thematik: den Klimawandel. Angekündigt ist ein Streitgespräch zwischen einer Wissenschaftlerin und einem Musiker. Ausgangsfrage: Wieso dringen die bedrohlichen Fakten der Wissenschaft nicht in Bewusstsein und Alltagshandeln?

Aus dem Saal auf die Leinwand

Für die Improvisation waren nur die Rollen, die ungefähre Dauer, eine grobe Rahmenhandlung und die zurückzulegende Strecke durch die Stadt festgelegt. Alles andere entstand spontan. Die Ausgangssituation: Daniela arbeitet im Forschungszentrum Geomar, ist gerade hergezogen und lässt sich von Tim (Lasse Wagner) die Stadt zeigen. Tim ist „Natural born Kieler“ Rock´n´Roll-Poet und hängt vor der Pumpe rum. Eigentlich wollte Daniela hier „Schiffbruch mit Publikum“ schauen, musste den Kinosaal allerdings verlassen, als der Film anfing: Den Anruf ihrer allein lebenden Mutter konnte sie nicht ignorieren. Es könnte ja dieses Mal wirklich was passiert sein. Also hinaus, vors Kino. „Schiffbruch mit Publikum? Lohnt nicht, ist scheiße“, sagt Tim schließlich, die verschiedenen Wirklichkeitsebenen kurzschließend, als Daniela endlich auflegt und zurück ins Kino möchte. Großes Gelächter beim Kinopublikum, das anfangs im Saal noch Teil der Szene war und das weitere Geschehen auf der Leinwand mitverfolgt.

Mit dem Schwert gegen Big Oil

Daniela und Tim kommen also ins Gespräch und schlendern durch die Stadt. Sie schneiden viele Themen an, bleiben dabei jedoch häufig an der Oberfläche. Das mag dem Aufbau des Experiments geschuldet sein. Das verlangt von ihnen schließlich, innerhalb ihrer Rollenbeschreibungen eine improvisierte Handlung zu entwickeln und gleichzeitig ein Streitgespräch über den Klimawandel zu führen. Ihr erstes großes Gesprächsthema ließe sich mit „Glaube und Wissenschaft“ überschreiben: Ganz im postfaktischen Zeitgeist provoziert Tim gleich zu Beginn mit der Aussage, dass Wissenschaft doch eine Frage des Glaubens sei, es doch immer auf den Blickwinkel ankomme – was Daniela vehement bestreitet. Tim rudert zurück – er wollte nur provozieren. Eigentlich bewundere er die Arbeit der Wissenschaft. Aber könne sie nicht irgendwie mehr tun?

Vor der Nicolai-Kirche dann die Frage, ob der Glaube helfen könnte, die Klimakrise zu überwinden? Tim erfleht mit großer Geste Beistand von Ernst Barlachs „Geistkämpfer“. Als dieser stumm bleibt, klettert er schließlich auf die Skulptur und fordert theatralisch die Klima-Revolution.

“So groß schien Dein Befehl mir nicht, der sterbliche, dass er die ungeschriebnen Gottgebote, die wandellosen, konnte übertreffen”, erwidert Antigone dem König Kreon, nachdem sie trotz dessen Verbots ihren Bruder begraben hatte. Sie handelte nach ihrem Gerechtigkeitsempfinden und stellte dieses über das geltende Gesetz. In Zeiten von “Schulschwänzern” und “Klima-Klebern” wird der von Sophokles verhandelte Konflikt wieder hochaktuell, fragt er doch auch nach der Legitimität von Gesetzesbruch und zivilem Ungehorsam. In der Wochenzeitung DER FREITAG ging Björn Hayer kürzlich noch einen Schritt weiter und fragte: Hätte Antigone an der Seite von Ulrike Meinhof gekämpft? Das ist Spekulation. Fakt hingegen: Sturmtief Antigone wird unsere Protagonist:innen gänzlich unvorbereitet treffen. Doch dazu später.

Wasserdichte Erkenntnisse

Zurück zum Stück. Bei der anschließenden Begegnung mit Danielas Doktorvater Marius gewinnt der Gesprächsverlauf an dramaturgischer Tiefe durch den dritten Protagonisten. Schnell bricht ein ungelöster Konflikt aus Danielas und Marius´ Vergangenheit auf. Beide forschten gemeinsam zur Auswirkung der Erderwärmung auf den Golfstrom, Daniela befristet für drei Jahre. Marius verhinderte, dass sie ihre Arbeit in dieser Zeit veröffentlichen konnte, da sie seiner Meinung nach noch offene Fragen enthielt – und machte ein paar Jahre später mit dem Thema Karriere. Dass beide zu der Zeit auch ein Verhältnis miteinander hatten, macht die Sache noch pikanter. Machtmissbrauch und prekäre Arbeitsverhältnisse im wissenschaftlichen Betrieb stehen im Raum. Das überfrachtet die Backstory allerdings und lässt sich gar nicht alles befriedigend abarbeiten, zumal es ja primär um die inhaltliche Diskussion gehen soll.

Also konzentrieren wir uns darauf: Das folgende Streitgespräch zwischen Tim und Marius gehört zu den stärksten Szenen, was auch am ruhigen und präzisen Spiel von Richard Sammel liegt. Marius’ Argumente bringt er durchaus nachvollziehbar und überzeugend: Wissenschaftliche Erkenntnisse müssten wasserdicht sein. Insbesondere, wenn auf ihrer Basis Gesetze verabschiedet werden sollen. Zu schnell würden sie sonst von Lobbyist:innen und (Wirtschafts)politiker:innen zerpflückt. Überhaupt, der demokratische Prozess. Der Widerstreit gleichberechtigter Interessen. Das verlange nun mal Kompromisse. Dass zu wenig getan würde, und das auch noch zu langsam, sehe er auch so, das sei aber nicht zu ändern. „Wir müssen alle etwas tun“, entgegnet Tim. „Oder vielmehr: nichts mehr tun. Aufhören zu konsumieren.“ Einfach mal die gigantische Maschine anhalten. Für Marius ist das zu einfach gedacht. In einer idealen Welt sei das vielleicht möglich, doch in einer solchen leben wir nun mal nicht. Es sei nicht möglich, einfache Antworten auf komplexe Fragen zu geben – alles hänge mit allem zusammen. Auch unsere eigene Rolle ist nicht mehr klar definierbar: Wir sind keine Zuschauer:innen mehr, wir sind gleichzeitig Akteur:innen. Und damit nicht genug – auch wenn vornehmlich der globale Süden die Auswirkungen des Klimawandels spürt, werden auch wir hier im globalen Norden mehr und mehr zu Betroffenen. Auch in Schleswig-Holstein.

Antike Tragödie und moderne Philosophie

Der Zustand des modernen Menschen also, ins Anthropozän gedreht und durch die Form und den Inhalt des Abends dekliniert. Darauf spielt auch der Titel an: Der 1920 in Lübeck geborene Philosoph Hans Blumenberg veröffentlichte 1979 eine Kulturgeschichte der Schiffbruch-Metaphorik. Ihr Titel: „Schiffbruch mit Zuschauer“. Seine Beobachtung: Während der antike Römer Lukrez beim Anblick eines Schiffbruchs noch den „Genuss“ des Nicht-Betroffen-Seins empfindet, sei diese strikte Trennung zwischen Zuschauer:in und Ereignis für die Denker:innen ab dem 19. Jahrhundert nicht mehr so ohne weiteres aufrecht zu erhalten. Der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt zum Beispiel sehe die Menschheit auf einem gebrechlichen Schiff wogend durch die Weltgeschichte segeln und erkenne: Auch diese Wogen „sind wir ja zum Teil selbst“. Das trifft heute mehr zu denn je. Und am Ende von “Schiffbruch mit Publikum” wird diese Einsicht umso bitterer, als Sturmtief Antigone eine gigantische, zerstörerische Woge in die Förde schickt…

Die Form stiehlt dem Inhalt die Show

Ist das Experiment nun geglückt? Das hängt vom Ziel des Experiments ab. Für Produzent Heiko Michels ging es auch um die Frage, ob der wissenschaftlichen Argumentation besser gefolgt werden kann, wenn sie in eine Handlung eingebettet ist, wie er im Anschluss an den Film im Kinosaal erzählt. Nicken im anwesenden Publikum. „Ja, man konnte gut folgen.“

Doch hätte dafür nicht auch ein konventioneller Film gereicht? Oder ein Theaterstück? Wahrscheinlich schon. Aber hätte es dann gleich zwei Fernsehberichte darüber gegeben? Eher nicht. Wahrscheinlich war es die Form, mit der das Projekt die Aufmerksamkeit auf sich zog. Und genau darin besteht das Dilemma der Aufmerksamkeitsökonomie: Die Form stiehlt dem Inhalt die Show, ja, sie wird zum Inhalt. So auch in der „Making-of“-Reportage des NDR (Beitrag im Schleswig-Holstein-Magazin vom 24. 04. 2024). Vielleicht liefert das Experiment auf diese Weise – durch seine eigene mediale Rezeption – eine Teilantwort auf die Ausgangsfrage, wieso die wissenschaftlichen Fakten nicht ins Alltagshandeln dringen.

„Schiffbruch mit Publikum“ wurde im Rahmen des Cinemare-Festivals aufgeführt.

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