Während in Berlin die Koalitionsverhandlungen laufen, werden naturgemäß jede Menge Papiere, Statements oder auch wissenschaftliche Untersuchungen veröffentlicht, die explizit oder implizit Empfehlungen oder Forderungen an die Politik enthalten. Das ist gut so. Merkwürdig ist, dass die Kultur, oder genauer gesagt Kulturinstitutionen, so still bleiben. Hier und da gibt es einzelne Äußerungen, aber auf ein wissenschaftlich fundiertes Statement oder eine gemeinsame Aktion hofft man vergebens. Warum ist das so?
Wir haben genug gesellschaftliche Analysen, wir wissen, wohin wir steuern, und wir, die wir in den Kultureinrichtungen arbeiten oder uns für Kunst und Kultur engagieren, wissen auch, was wir mit unseren Angeboten erreichen wollen. Warum gelingt es uns nicht, das gemeinsam auf die Straße oder in den öffentlichen Diskurs zu bringen? Nun wäre es vonnöten, einen Aufruf zu starten, gemeinsam mehr Wir zu wagen. Fünf Thesen dazu:
1. Wir leben in Zeiten geopolitischer Unsicherheiten. In Europa läuft die Diskussion über Aufrüstung, über eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur, auch und zunehmend unabhängig von den Vereinigten Staaten. Allenthalben wird betont, wie wichtig es ist, in Europa zusammenzuhalten. Zusammenhalten kann, wer einander vertraut. Einander vertraut, wer sich kennt. Was bietet eine bessere Gelegenheit, sich kennenzulernen, als der kulturelle Austausch, wenn man Traditionen, Angewohnheiten und Vorlieben der anderen kennenlernt. In Zeiten wie diesen muss der europäische Austausch, das europäische Wir, gemeinsam gefördert werden.
2. Die Unsicherheiten von außen bedrohen die Sicherheiten im Inneren. Mal heißt es, Deutschland müsse wehrhafter werden, mal heißt es, angesichts vieler Krisen müsse das Land resilienter werden. Hier gilt: Resilienz stärkt sich durch Zusammenhalt und Vielfalt. Diesen Zusammenhalt zu unterstützen, dafür bieten Kultureinrichtungen viele Möglichkeiten: Museen, die mit ihren Ausstellungen der Selbstvergewisserung dienen, Volkshochschulen, die die informelle Bildung stärken, Bibliotheken, die Treffpunkte sind und Wissensmanagement betreiben, Archive, das kulturelle Gedächtnis unseres Landes, oder Theater, die Themen spielen und in den Diskurs einbringen können. In Zeiten wie diesen muss in unserem Land das gemeinsame Wir gestärkt werden.
3. Viele Kultureinrichtungen sind stolz auf ihr Profil. Die meisten Mitarbeitenden sind mit Engagement und viel Herzblut dabei. Dabei verlieren wir häufig die Kolleginnen und Kollegen in den anderen Institutionen aus dem Blick, erst recht alle weiteren möglichen Partnerinnen und Partner in Wirtschaft und Gesellschaft. Je mehr wir aber über Sparten und Bereiche hinweg zusammenarbeiten, umso mehr Synergien können wir erzeugen und umso mehr Erkenntnisse können wir gewinnen. Außerdem steigen die Ressourcen, auf jeden Fall intellektueller Art, vielleicht auch materieller Art. In Zeiten wie diesen muss das gemeinsame Wir der Kulturinstitutionen angegangen und umgesetzt werden.
4. Die Gesellschaft ist gespalten. In einer Zeit, in der die Gesellschaft mehr und mehr auseinanderdriftet, in der immer mehr polarisiert wird, rechts gegen links, libertär gegen staatsgläubig, oben gegen unten, in so einer Zeit ist es dringend geboten, gemeinsam mehr Wir zu wagen. Und die Kulturinstitutionen mit ihren umfangreichen und substanziellen Angeboten bieten die richtigen analogen und virtuellen Plattformen dazu. In einer Zeit wie dieser können Kultureinrichtungen dazu beitragen, dass wir in der Gesellschaft gemeinsam mehr Wir wagen – auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.
5. Vielfalt und Nachhaltigkeit stehen unter Druck. Sie sind unter die Räder von Kulturkämpfen geraten, bei denen es nicht mehr um Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse geht, sondern um moralische Diskussionen. Aber wir wissen: Eine vielfältige Gesellschaft, in der – um es ganz altmodisch preußisch zu sagen: jede und jeder nach seiner Façon selig werden kann und darf, und eine Gesellschaft, die auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit achtet, wird auf die Dauer eher überlebensfähig sein. Das zu thematisieren und, noch viel mehr, selbst vorzuleben, liegt im Ermessen unserer Kultureinrichtungen. Wir können zeigen, wie eine vielfältige und nachhaltige Gesellschaft aussehen kann. In Zeiten wie diesen muss unser Land gemeinsam ein vielfältiges und nachhaltiges Wir zeigen.
Ich glaube, es wäre viel gewonnen, wenn wir uns in den Kultureinrichtungen auf solche Thesen einigen könnten. Diese sind ja nicht in Stein gemeißelt, wir können und müssen variieren, entwickeln, diskutieren. Aber wir müssen auf jeden Fall ins Gespräch kommen und uns offensiv einbringen. Zeiten der Transformation sind Zeiten der Unsicherheiten, und wir haben aus Kunst und Kultur so viel beizutragen. Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik. Nehmen wir die Chance gemeinsam wahr und wagen wir gemeinsam mehr Wir!