Angeln – Hochburg der Märchenerzähler

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„Gedruckt liegen Märchen nur in einem Grab, durch das Lesen holen wir sie in unsere Vorstellung herauf, durch das Erzählen werden sie lebendig…“

(Rudolf Geiger)

Susanne Söder-Beyer hat einen Beruf, der in Angeln erstaunlich häufig anzutreffen ist. Sie ist Märchenerzählerin. Auf der Halbinsel gedeiht nämlich nicht nur der Raps, sondern auch das freie Erzählen, speziell das freie Märchenerzählen. Von den rund 40 haupt- oder nebenberuflich tätigen Aktiven des Fördervereins Märchen sind allein 17 zwischen Schlei und Flensburger Förde zuhause. Diese Menschen sind nicht ganz unschuldig daran, dass die uralte, zeitweilig in den Hintergrund getretene Kunst des freien Erzählens wieder landesweit Auftrieb hat und Anerkennung findet.

Knotenpunkt des Angeliter Märchen-Netzwerks: ein Mann namens Klaus Dörre

Doch warum ausgerechnet Angeln? Ich mache mich auf die Suche.

Susanne Söder-Beyer aus Boren an der Schlei war gerade wieder in Lübeck beim elftägigen Festival „Der Norden erzählt“. Alle zwei Jahre verzaubern sie und andere ihre Zuhörenden in Theatern, Kulturzentren und Geschäften und Büchereien, aber auch in Schulen und Kindergärten. Und noch während des Festivals ergänzten diesmal völlig neue, zusätzliche Buchungsanfragen die Einladungen zum Wiederkommen. Doch zuvor geht es im nächsten Jahr im gewohnten zweijährigen Rhythmus zu den Märchentagen in Schleswig.

Erste Vortrags-Erfahrungen hatte die gebürtige Hessin bei ihrer Ausbildung in einem Waldorf-Kindergarten gesammelt. Doch das sture Auswendiglernen war für sie nicht das Gelbe vom Ei. „Dann habe ich bei den Schleswiger Märchentagen Ute Walter frei erzählen hören und wusste: Das will ich auch, und ich habe mich entschlossen, bei Klaus Dörre einen Kurs zu machen.“ Diese kleine Erinnerung enthält zwei wichtige Hinweise. Zum einen grassiert auf den entsprechenden Festivals das Märchenerzähl-Virus besonders. Zum anderen liegt ein Knotenpunkt des Angeliter Märchen-Netzwerks in Quern-Neukirchen an der Flensburger Förde. Denn dort lebt, bildet aus und erzählt seit mehr als zwanzig Jahren ein Mann namens Klaus Dörre. Wie die meisten Menschen der Angeliter Märchenszene sind auch Klaus und seine Frau Edith aus deutlich südlicheren Regionen Deutschlands zugezogen. Für alle Seiten ein Glücksumstand.

„Im Süden, zum Beispiel so um Stuttgart herum, da gab es die Erzählerei schon lange, lange, hundert Jahre vor uns. Hier oben war der Boden noch ziemlich frisch.“

(Klaus Dörre)

Also haben die Dörres angefangen zu ackern. Sie waren auch dabei, als im Jahr 2002 der Förderverein Märchen aus der Taufe gehoben wurde, um das Festival in Schleswig zu organisieren. Bald kamen die Festivals in Kiel, Lübeck und Lüneburg dazu, in Schwung gebracht von mitreißenden Persönlichkeiten wie Hanne Schrader für Schleswig oder Brigitte Harkou für Kiel.

Die Dörres engagierten sich derweil in dem Verein Grundstein. Der pachtete, direkt neben dem Wohnhaus der Dörres, zwanzig Jahre lang eine Jugendfreizeiteinrichtung mit großem Gelände direkt an der Steilküste. Klaus Dörre inszenierte dort Märchen-Indianercamps, hielt Märchenseminare für Erwachsene und bot nicht zuletzt Ausbildungskurse an, die von rund zweihundert Menschen durchlaufen wurden. Kaum verwunderlich, dass viele der ersten Teilnehmer aus der Nähe kamen.

Klaus Dörre hat rund zweihundert Erzähler ausgebildet. (Foto: Hajek)

Ballte sich also bloß wegen des Fördervereins Märchen oder/und wegen Klaus Dörre um Angeln herum die erste „kritische Erzähler-Masse“ zusammen? Um dann in einer Kettenreaktion immer neue Menschen anzustecken? Hätte das demnach an einem beliebigen anderen Ort genauso passieren können? Oder gehörten der Zauber und die Energie dieser Landschaft unbedingt dazu?

Klaus Dörre wiegt vorsichtig den Kopf, genau wie andere, die ich befrage. „Ja, doch“, wird dann zögernd zugestimmt: „Angeln ist ein Märchen-Ort“.

Tatsächlich wirkt die Landschaft mit ihren Wäldern und Hügeln wie eine Welt im Kleinen, eher sogar eine Sammlung von Welten im Kleinen. Denn „klein, kleinteilig“ ist das beschreibende Stichwort. Gewundene Straßen zwischen weiten Feldern führen hinter der nächsten Kurve, hinter dem nächsten Dorf unverhofft zu verwunschenen Weilern zwischen Wald und Wasser, deren Namen auf -up oder -by enden. Und niemals würde es mich wundern, plötzlich vor einem Ortsschild mit der Aufschrift Bullerby zu stehen. Deutsche und Dänen sind hier seit jeher nebeneinander und miteinander zuhause und haben längst wechselseitige Toleranz und Offenheit gelernt. Solche Kleinteiligkeit und Toleranz kommen auch den Neuankömmlingen zugute. Von den heimatverbundenen Alteingesessenen mehr oder minder gelassen beobachtet, richten sich die Neuen in jeweiligen Winkeln ein, verdienen ihr Brot oder Zubrot mit Kleinkunst, Keramik, Malerei. Oder eben mit Erzählen.

Von gemeinsamen Projekten und der Ansteckungskraft des Märchenerzählens

Eine bekannte Erzählerin ist Katharina Götz aus Hardesby bei Sörup. Die Pädagogin kann Theater spielen, singen und musizieren. Doch ihre große Liebe gilt dem freien Erzählen, das sie an der Bonner Schule für Erzählkunst perfektioniert hat. „Literatur oder Märchen, Bibelgeschichten oder auch mal ein Gedicht werden an einem Erzählabend zu einem kreativen Gesamtkunstwerk“, steht auf ihrer Webseite.

Vor vier Jahren hat sie zusammen mit den Kolleginnen Susanne Söder-Beyer und Sylvia Wieland die Flensburger Erzählerei und damit den Flensburger Märchensommer ins Leben gerufen. Im Volkspark, auf der Märchenwiese am Wasserturm, wird zur schönen Jahreszeit an jedem Sonntagnachmittag umsonst und draußen erzählt. Sponsoren und Stadtverwaltung fördern wohlwollend und gerne. Aber im Winter? Katharina Götz plant aktuell einen Märchenwinter in den Räumen der Kirchengemeinde Flensburg-Fruerlund, mit einer regelmäßigen offenen Bühne für Erzähler.

Die Resonanz in Flensburg blieb den Verantwortlichen der Nachbargemeinde Harrislee nicht verborgen, und so wird es ab diesem Jahr auch einen Harrisleer Märchensommer geben. Organisatorin Anke Petersen, eine weitere Schülerin von Dörre, wird sich die vier Auftritte mit drei Kolleginnen teilen. Das ist typisch für die Szene: Man tut sich gerne zusammen, unterstützt sich wechselseitig und tauscht sich aus.

Anke Petersen ist ein Beispiel für die Ansteckungskraft des Märchenerzählens. Die spätere Schülerin von Klaus Dörre erinnert sich an die erste Begegnung mit ihm:

„Ich bin ehrenamtliche Mitarbeiterin im Hospiz. Wir hatten Fortbildung, und dazu stand unverhofft ein unauffälliger Mann mit Gitarre in der Tür und wollte das Märchen vom Froschkönig erzählen. Ich dachte: Oh nein! Märchen! Wäre ich bloß zuhause geblieben! Da setzt sich Klaus hin und fängt an zu erzählen. Und es vergehen keine zwei Minuten, da verwandelt er sich, der Raum verwandelt sich, und ein Prinz sitzt da und erzählt mit wunderbarer Stimme – ich war hin und weg und wollte das auch können.“

„Märchen sprechen von Sehnsucht und Hoffnung … und von gelingendem Leben.“

(flensburgererzählerei.de)

Weiterführende Links zur Märchenszene in Schleswig-Holstein:

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