„Wem gehört die Geschichte?“ – Ein Archiv erzählt zurück

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Archive gelten gemeinhin als verstaubte Verwaltungseinrichtungen. Ihre zentrale Rolle im rechtlichen und politischen System – zum Beispiel, wenn es um Gebietsansprüche geht, vergessen viele dabei. Eine Podiumsdiskussion Ende April in Schleswig rief diesen Punkt ins Gedächtnis. Anlass war die Vorstellung des Buches „Wem gehört die Geschichte?“ über das Schleswig-Holsteinische Landesarchiv von seiner Gründung bis in die Gegenwart. Werner Junge, früherer NDR-Journalist und langjähriges Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, moderierte das Gespräch der drei Autor*innen der bundesweit ersten derartigen Monografie.

Ein Autor*innenteam mit Distanz und Nähe

Gleich zu Beginn des Gesprächs fragt er den Direktor des Landesarchivs, Rainer Hering: Wie kam es zur Auswahl der Co-Autor:innen? Hering erklärt, es sei „ein längerer Prozess gewesen, diese Archivgeschichte überhaupt zu realisieren“.

Archivgeschichte erscheine vielen auf den ersten Blick als „uninteressant“, doch im Laufe der Arbeit sei deutlich geworden, dass dies keineswegs zutreffe. Für das Projekt habe er gezielt nach Perspektiven gesucht, die sowohl institutionelle Nähe als auch wissenschaftliche Distanz vereinen.

Seine Wahl fiel auf zwei Persönlichkeiten, die dieses Spannungsverhältnis ideal verkörpern: Zum einen auf Silke Göttsch-Elten, als Professorin an der CAU in Kiel eine international ausgewiesene Ethnologin und zugleich Zeitzeugin der Archiventwicklung seit den 1970er Jahren, zum anderen auf den Historiker und Journalisten Dr. Tillmann Bendikowski, der das Archiv als „Neufeld“ betrat. Hering beschreibt Bendikowski als jemanden, „der Geschichte auf großartige Weise nahebringen kann“.

Archive als Herrschaftsinstrument

Tillmann Bendikowski entwirft ein historisches Tableau, in dem Archive nicht als neutrale Wissensspeicher, sondern als Instrumente imperialer Macht erscheinen. „Was mich am meisten überrascht hat, ist das Preußische“, bekennt Bendikowski. „Dass das Staatsarchiv in Schleswig das unmittelbare Kind eines Angriffskrieges der Preußen ist“. Es wurde kurz nach dem Krieg von 1864 gegen Dänemark gegründet. Archivalien waren damals begehrte Kriegsbeute.

Diese Erkenntnis ist für ihn ebenso ernüchternd wie erhellend. Die Gründung des Archivs folgt – so seine Analyse – der preußischen Logik von Herrschaftssicherung: „Die Preußen kommen, die Preußen annektieren, machen eine Provinz und gründen ein Staatsarchiv.“ Dabei wird das Archiv zur institutionellen Verlängerung eines politischen Willens, zur Infrastruktur des Besiegens – und des Vergessens. Geschichte wird hier nicht nur dokumentiert, sondern aktiv umgeschrieben.

Bendikowski bezeichnet diese Einsicht als „erschütternd“, denn sie konterkariert das romantisierte Bild des Archivs als neutraler Hüter der Vergangenheit. Stattdessen zeigt sich: Archive entstanden oft aus Machtverschiebungen, aus Gewaltakten, aus politischem Kalkül. Dass die preußische Gründung des Archivs in Schleswig dem Bedürfnis entsprang, die neue Provinz nicht nur administrativ, sondern auch erinnerungspolitisch zu vereinnahmen, verleiht der Institution eine brisante historische Tiefenschärfe.

Zwischen Kiste und Kanzlei – Archive als Garanten der Rechtsordnung

Dass Archive nicht in erster Linie für Historikerinnen und Historiker geschaffen wurden, sondern zur Sicherung von Rechtsansprüchen, verdeutlichte Rainer Hering mit einem Vergleich: „Im Mittelalter hat man Verträge geschlossen und Urkunden geschrieben, zum Beispiel über die Besitzverhältnisse eines Grundstücks. Die Dokumente kamen in eine Kiste. Wenn jemand das Grundstück streitig machen wollte, konnte man das Dokument aus der Kiste holen.“ So weit, so pragmatisch. „Wenn man umtriebig ist, ist die erste Kiste schnell voll, dann kommt die zweite Kiste, die dritte und so weiter … Man braucht Platz, und man braucht ein System, um ein Dokument wiederzufinden, Rechtsansprüche deutlich zu machen, um Geld zu bekommen, um den Anspruch auf Gebiete nachweisen zu können.“

Auf dem Podium: Rainer Hering, Moderator Werner Junge, Silke Göttsch-Elten, Tillmann Bendikowski (v.l.n.r.). Foto: Kristof Warda

Diese Notwendigkeit der Rechtsbeweisführung führte zu einer Systematisierung – und damit zur Geburt des Archivs. Die Funktion des Archivs als Garant rechtlicher Ordnung zieht sich historisch durch die Epochen. Hering betont: „Archive sind immer an Herrschaftsträger gebunden“, sie „wandern im Regelfall bei Territorialveränderungen auch mit, weil sie eben die Rechtssicherung dokumentieren“. Die Archive seien damit nicht nur historische Speicher, sondern politische Werkzeuge – bis heute. So bewahrt das Landesarchiv nicht nur Verträge und Kabinettsprotokolle auf, sondern auch Grundbücher und Meldeunterlagen.

Zeitzeugenschaft unter Vorbehalt

Silke Göttsch-Elten bringt in der Podiumsdiskussion nicht nur ihre wissenschaftliche Perspektive als Ethnologin ein, sondern auch ihre persönliche Erfahrung. „Ich bin 1976 das erste Mal im Archiv gewesen und habe gedacht, dass ich sehr vieles mitbekommen habe“, sagt sie rückblickend. Doch im Zuge ihrer Arbeit am Buch erkannte sie, „wie subjektiv Zeitzeugenschaft eigentlich ist“.

Historische Sperrfristen und politische Sensibilitäten

Ein Beispiel dafür seien auch die Zugangsbeschränkungen, mit denen dänische Historikerinnen und Historiker im Schleswig-Holsteinischen Landesarchiv über Jahrzehnte hinweg konfrontiert waren. Göttsch-Elten berichtet von eigens festgelegten Sperrfristen, die gezielt dänische Nutzerinnen und Nutzer vom Zugang zu bestimmten Archivbeständen ausschließen sollten. Die Angst vor politischer Instrumentalisierung der Geschichte im „Grenzkampf“ war groß. Die Archivare, so Göttsch-Elten, gerieten dadurch zwischen alle Stühle – einerseits der Loyalität zum Ministerium verpflichtet, andererseits bemüht um kollegiale Offenheit gegenüber den dänischen Forschenden.

Meilenstein der Demokratisierung: Das Archivgesetz

Ein zentrales Thema der Diskussion war das Schleswig-Holsteinische Archivgesetz – von den Podiumsteilnehmenden übereinstimmend als Meilenstein für das Selbstverständnis und die Arbeitsweise von Archiven bewertet. Die Forderung nach einem solchen Gesetz sei keineswegs neu gewesen. Schon seit den späten 1970er Jahren sei die Notwendigkeit erkannt worden, die Nutzung von Archivgut rechtlich zu regeln und transparent zu gestalten. So zirkulierte ein Entwurf des Archivgesetzes bereits 1983 in Fachkreisen, getragen von engagierten Archivarinnen und Archivaren wie Rita Korte und Klaus-Jürgen Lorenzen-Schmidt. Ziel war es, einheitliche Sperrfristen zu definieren – etwa die Reduktion von 30 auf zehn Jahre –, aber auch die Rolle des Archivs als aktive, demokratische Institution zu stärken.

Tillmann Bendikowski, Silke Göttsch-Elten, Rainer Hering: Wem gehört die Geschichte?, Wallstein Verlag 2025, 28 €.

Das Archivgesetz wurde 1992 schließlich erlassen und sollte nicht nur juristische Klarheit schaffen, sondern auch das Archiv als Teil der Geschichtsöffentlichkeit verankern. Es war ein Akt der Demokratisierung, wie Göttsch-Elten betont: Es bedeutete, dass Archivare nicht mehr allein nach ministerieller Weisung handeln mussten, sondern sich auf ein transparentes Regelwerk berufen konnten – ein Schritt hin zur institutionellen Autonomie und Bürgernähe. Politische Widerstände hätten diese Entwicklung lange verzögert. Erst durch den Druck engagierter Historikerinnen und Historiker sowie der Öffentlichkeit rückte das Thema schließlich auf die politische Agenda.

Von blinden und von braunen Flecken

Und heute? Rainer Hering betont: „In einem demokratischen Rechtsstaat ist es für uns alle von großer Bedeutung, dass es Archive gibt.“ Denn Archive sicherten nicht nur Rechte und Geschichte, sie stiften auch Transparenz, Nachvollziehbarkeit und – im besten Fall – Vertrauen.

Ein Archiv, so Hering, müsse bereit sein, „ihre eigenen blinden und braunen Flecken zu thematisieren und zu sagen: hier ist irgendwas nicht in Ordnung gewesen – und heute machen wir es anders“. Archive sind mehr als Gedächtnisspeicher – sie sind Voraussetzungen für kritische Öffentlichkeit, für politische Bildung und für ein gelingendes gesellschaftliches Miteinander. In Zeiten von Desinformation und Erinnerungskultur im Wandel ist das eine zentrale Botschaft.

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