Heinz-Dieter Franke: „Kleine rote Fische, die rückwärts gehen.“ Eine Kulturgeschichte der Krebse.
Bücher wie dieses, die Natur- und Geisteswissenschaften miteinander verbinden – davon kann es meiner Meinung nach nicht genug geben. Denn sie bringen zusammen, was häufig getrennt betrachtet wird, wenden sich an eine große Zielgruppe und sind abwechslungsreich. Eine Kulturgeschichte lässt sich über fast jedes Thema erzählen. In dieser geht es um Krebse.
Der Autor Heinz-Dieter Franke ist Krebsforscher. Bis zur Rente leitete er eine Arbeitsgruppe an der Biologischen Anstalt Helgoland. Doch um diese Arbeit geht es selten in der Kulturgeschichte der Krebse. Es handelt sich eher um ein Nebenprojekt von Frankes jahrzehntelangen Forschungen: die Bilder und Geschichten, die ihm dabei begegnet sind, der Beifang in den Scampi-Netzen quasi.
Eine Monsterkrabbe reguliert Ebbe und Flut
Und damit wären wir auch schon mitten im Thema und im Buch. Denn es versammelt erstaunlich interessante Fakten über Krebse. Wusstet ihr, dass sich Krebse häuten? Je älter sie werden, desto größer sind die Abstände zwischen den einzelnen Häutungen. Der Krebsgang hingegen als Metapher für rückläufige Bewegungen wie bei Günter Grass ist eine Erfindung. Krebse gehen nur rückwärts, wenn sie sich bedroht fühlen. Auf Plattdeutsch sagt man ihnen das auch gar nicht nach, sondern nennt sie Dwarslöper – Querläufer.
Krabben sind übrigens auch Krebse. Allerdings ist das, was wir Krabbe nennen, eigentlich eine Nordseegarnele. Garnelen sind ebenfalls Krebse.

Heinz-Dieter Franke: „Kleine rote Fische, die rückwärts gehen.“ Eine Kulturgeschichte der Krebse.
Hamburg 2024: mare.
336 S., 28 €.
ISBN: 978-3-86648-713-0
Franke gibt auch Mythen und Legenden wieder, zum Beispiel diese aus verschiedenen Kulturen Südostasiens: Auf dem Grund des Meeresbodens lebt eine Monsterkrabbe zu Füßen eines Baumes. Ihr großer Körper verschließt den Eingang zur Unterwelt. Doch zweimal am Tag verlässt sie ihren Platz, um sich auf Nahrungssuche zu begeben – dann „stürzen die Wassermassen in das offene Loch“. Ebbe. Wenn sie zurückkehrt und sich wieder auf das Loch setzt, steigt der Meeresspiegel. Flut.
Sammlung mit Umwegen
Frankes Sammlung an Krebswissen und -erzählungen ist sehr umfangreich, „alles, was uns als Menschen mit Krebsen verbindet“, schreibt der Autor selbst. Es gibt ein ganzes Kapitel zu Asseln, eins zu Krebsen als Heilmittel, als Sternzeichen, eins zu Krebsen und Darwin, eins zu Krebsen in der Kunst… In Frankes Gedankengängen zu den einzelnen Themen finden sich überraschende Abzweigungen, aber er findet immer wieder den Weg zurück. Trotzdem: Manchmal würde man sich weniger Umwege wünschen. Der Autor krebst herum.
Und leider versammeln und verstecken sich die Bilder in der Mitte des Buches. Das ist besonders schade, weil die Abbildungen gut ausgewählt und deren Interpretationen wirklich gelungen sind: ein Hummer von Albrecht Dürer, Darstellungen von Krebsen in der japanischen Kunst, von Pablo Picasso und von Anne Vallayer-Coster, die in ihrem Stillleben mit Hummer diesen als erste Künstlerin realistisch mit Pocken bewachsen zeigt. Doch zwischen Analyse und Bild hin- und herzublättern, bereitet nicht so viel Freude.
Das Sahnehäubchen auf der Krabbensuppe
Nach dem Lesen bleibt das Gefühl, dass man zwar viel gelernt hat, aber trotzdem etwas fehlt. Das Sahnehäubchen auf der Krabbensuppe – vielleicht in Form von Anekdoten aus Frankes Forschungszeit auf Helgoland? Die persönlichen Assoziationen zum Thema „Krebs“ muss man wohl selbst liefern:
Meine erste Begegnung mit einem Krebs war wohl die Krabbe Sebastian aus dem Disney-Film Arielle, die Meerjungfrau. Später folgten Krebse fangen auf Baltrum und die Urzeitkrebse Triops, deren Eier man als Zeitschriften-Extra im Supermarkt kaufen konnte. In Der Schwarm begegneten mir die Tiere als fiktive Bedrohung in Form von Krabbenarmeen, die eine Epidemie auslösen. In Unsere Meere: Die Nordsee. Die Ostsee, Folge 2: Unbekannte Nordsee ist die Bedrohung ganz real: Königskrabben als bioinvasive Art.
Warum Krabben so teuer geworden sind, erklärt Franke im Kapitel „Krebse – ein Beitrag zur Ernährung der Menschheit?“ Ich erinnere mich daran, wie ich mit Anfang 20 in Husum ein Krabbenbrötchen kaufen wollte und nicht wusste, dass die Preise so stark gestiegen waren und die Verkäuferin mich fragte, ob ich wirklich ein Brötchen für acht Euro kaufen wollte, weil ich wohl nicht so aussah, als könnte ich mir das leisten (konnte ich auch nicht).
Dabei waren selbst Hummer lange kein geschätztes Nahrungsmittel. Franke erzählt über Kanada zu Beginn des 20. Jahrhundert: „Die Brote der Kinder ärmerer Eltern waren mit Hummerfleisch belegt, die der Kinder aus besser situierten Familien mit teurer Erdnussbutter bestrichen.“ Als ich mit Mitte 20 in Boston unterwegs war, habe ich mir aber ein Hummerbrötchen für sehr viel mehr als acht Euro gekauft. Das war das erste und bislang letzte Mal, dass ich Hummer gegessen habe.
Lasst uns die Sammlung erweitern: Was sind eure Geschichten über Krebse, die ihr erlebt, gelesen oder gesehen habt?