Ein Buch, das auf eine kunstvolle Art die Kriege und Geheimnisse im Leben eines jeden einzelnen thematisiert und dem Schweigen Worte verleiht.
Am 13. März erschien der neue Roman „Flusslinien“ von Schriftstellerin Katharina Hagena, in dem es um Leben und Tod, Vergangenheit und Zukunft und all die kleinen Momente dazwischen geht. Auf fast 400 Seiten spricht die Autorin durch die drei Hauptfiguren Arthur, Luzie und Margrit generationenübergreifende, zeitlose, und zeitgenössische Themen an. So auch den Ukrainekrieg, die Elbvertiefung, den Nationalsozialismus, aber auch Lebensqualität, Geheimnisse und all die guten und schlechten Entscheidungen, die jeder in seinem Leben getroffen hat und treffen wird. Und natürlich die Liebe.
Die Perspektiven des Lebens
In dem Buch geht es um ein Gespann aus drei Charakteren, bestehend aus:
- Arthur, Fahrer im Seniorenheim und Sprachenfanatiker, der immer nach neuen Begriffen sucht, um die Dinge, die man nicht beschreiben kann, in Worte zu fassen
- Margrit, Luzies 102-jährige Oma, die ohne Hörgerät in der Stille mehr versteht als in den gesprochenen Worten
- Luzie, Margrits Enkelin und eine junge Frau, die nicht genau weiß, wie sie mit ihrer ganzen Wut und allem Schlechten, das ihr wiederfahren ist, leben kann und wohin ihr Weg sie führt
An der Elbe kommen sie alle zusammen, im Seniorenheim, wo Margrit, pensionierte Stimmbildnerin, nahe des römischen Gartens wohnt. Doch der Garten sucht Margrits Gedanken heim. Vor ihrem Tod möchte die alte Frau ihre Vergangenheit aufarbeiten, verschwiegene Geschichten ans Tageslicht bringen, die zweifelsohne mit dem Garten zusammenhängen. Jeden Tag wird sie vom „entzückenden“ Arthur zum Garten gefahren, wo sie ihre Erinnerungen wieder aufleben lässt. Die kleinen Dinge, wie die Witzeleien mit Arthur, die Ausflüge zum römischen Garten oder Luzies Besuche geben ihr Kraft.
Doch Luzies Veränderung belastet sie. Aus heiterem Himmel hat sich die gerade 18-jährige von der Schule abgemeldet, ist bei ihrer Mutter ausgezogen und tätowiert jetzt die Bewohner der Seniorenresidenz im Keller. Da wäre sie jedoch nicht ohne Arthurs Hilfe rangekommen, der ihr aber ein Dorn im Auge ist – wie jedes männliche und sich zu schnell bewegende Wesen. Genervt von seinem Sprachenhobby und der Beziehung zu ihrer Großmutter bemerken die beiden im Laufe des Buches, wie viel sie doch gemeinsam haben.
Arthur hingegen weiß seitdem Theo, sein Zwilling, verschwunden ist, nicht so richtig, wohin mit sich. Margrit und die Seniorenresidenz waren eigentlich nur eine Zwischenlösung.
Zusammen lernen die Charaktere sich selbst kennen. Innerhalb von nur zwölf Tagen, ein Hauch des Lebens, nur ein Moment, thematisiert Katharina Hagena ganz nah am Leben die täglichen Sorgen und schafft Raum für die Zukunft.
Und obwohl alle drei vollkommen unterschiedliche Leben führen, haben sie eins gemeinsam: die tiefen Schicksalsschläge, die ihnen widerfahren sind. Einen Weg zu finden, mit diesen Emotionen umzugehen und sie „weiterfließen“ zu lassen, suchen sie alle.
50 Shades of Elbe
Mit einer eleganten Wortgewandtheit schafft es die Autorin, die Elbe und den römischen Garten zum Leben zu erwecken und Worte in die Stille zu bringen. Die Art und Weise, mit der abstrakte Thematiken wie das Wasser, der Tod, die Stille, der Atem, die Sprache oder Geheimnisse lebendig werden, ist beeindruckend.
„Das Stühlchen, so nennt sie diese Zeit vor dem Einatmen. Sie setzt sich aufs Stühlchen und wartet auf den nächsten Zug. Da kommt er ja schon. Und ausatmen.“ – Margrit
Es ist faszinierend zu lesen, auf wie viele Arten und Weisen Hagena das Wasser auch auf andere Kontexte übertragen kann. So beispielsweise die Atmung, die Unterwelt, die Elbe oder das Vergessen. Das aber immer mit viel Humor. Selbst Gespräche über den Tod kann Hagena so auflockern. Der Titel „Flusslinien“ ist definitiv mehr als passend.
„(…) Lethe, dem Fluss des Vergessens. Lethe ist ihr Lieblingsfluss und der, vor dem sie sich am meisten fürchtet. Mit zwei Händen daraus schöpfen, trinken und alles abstreifen, auch jene halbverrotteten Reste, die einen nachts heimsuchen wie Killer-Zombies.“ – Luzie
Die Kunst, die malerischen „Flusslinien“ zu Papier zu bringen
Jeder der Charaktere wurde sprachlich so individuell geschrieben, dass man sowohl Charakter als auch Alter herauslesen kann. Margrit besitzt eine Tiefgründigkeit. Hagena stellt sie mit genau der Weisheit dar, die bei einer über 100-jährigen wohl erwartbar ist. Was jedoch nicht erwartbar ist, ist die Leichtigkeit und die humorvolle Art, die die Autorin in den Charakter hineinschreibt. Beispielsweise, wenn Margrit sich lautstark beklagt, dass das Essen immer beige sei, damit man die Flecken nicht sehe, wenn „die Alten“ kleckerten. Doch trotz des Alters ist sie mental noch topfit. Und teilweise auch sehr modern.
„Aber Wenn du tätowieren willst, denn fang bei mir an.“ – Margrit
Die hitzköpfige Luzie ist Margrits Enkelin und Augenstern, was sehr schnell klar wird. Doch unter der unnahbaren Oberfläche und zornigen Ausstrahlung stecken sehr viele tiefgründige Gedanken und großes Leid. Dieser Kontrast kann durch Hagenas Wortwahl fast schon am eigenen Leib nachempfunden werden. Durch Luzies Kunst und das Tätowieren bekommen die Leser*innen noch tiefere Einblicke in ihre Gedankenwelt.
„Luzie zeichnet auf die Rückseite des Programmzettels eine flache Teletubby-Landschaft, in der kleine Vulkane explodieren. Über jedem Vulkan steht in Großbuchstaben WWWARRRUMMMM, während kleine, fette Wolken von den Kratern aufsteigen.“
Und dann ist da noch Arthur, Margrits humorvoller Fahrer. Doch in diesem äußerlich so entspannten und friedlichen jungen Mann verbirgt sich eine große Last. Was am Anfang noch gar nicht klar ist, nimmt während des Buches Fahrt auf, sodass man am Ende ein ganz anderes Bild von dem sicher wirkenden Arthur hat.
„Vieles wäre einfacher, wenn man eine vernünftigere Sprache hätte, eine, in der »ganz gut« nicht »halb gut« bedeutet. Eine, in der ein »besserer« Tag nicht schlechter ist als ein »guter« Tag.“ – Arthur
Was auf den ersten Blick verwirrend oder chaotisch wirken kann – die verschiedenen Sichtweisen – wird durch Hagenas Schreibstil zum Motiv des Buches. Die Unterschiedlichkeit eines jeden Einzelnen hervorzubringen. Katharina Hagena schafft es, sie alle zusammenzubringen und auch darzustellen, wie ähnlich Menschen sich trotzdem sein können. Und wie sie alle eine besondere Beziehung zueinander haben.
„Luzie sagt, sie habe keinen guten Zugriff auf sich selbst. Hat überhaupt jemand Zugriff auf Luzie? Sie ist wie ein Lichtstrahl, ein Windstoß, Margrits Luft zum Atmen.“
Viele Facetten des Lebens werden durch die Charaktere dargestellt und trotz der bewegenden Familiengeschichten und Schicksale findet kein Schönreden davon statt. Die Schriftstellerin schafft es eher, Humor in jede noch so ernste Situation zu bringen und die Themen aufzulockern.
So wird durch Margrits Tätowierung ein neuer Trend im Seniorenheim ausgelöst – der Reihe nach lassen sich die alten Menschen nun von Luzie in ihrem neuen Studio im Keller tätowieren, da „für immer ja nur eine sehr absehbare Zeit“ bei ihnen sei.
Zu den großen Handlungen werden auch, wie im echten Leben, die ganzen kleinen Momente erzählt. Was es beispielsweise mit einem Krieg gegen einen Maulwurf, dem Schierlings-Wasserfenchel oder mit dem „Rollarthur“ auf sich hat, können Interessierte in „Flusslinien“ herausfinden.
Wer in „Flusslinien“ den nächsten fesselnden, spannungsgeladenen Krimi sucht, den man nicht mehr weglegen kann, der wird vergeblich suchen. Das Buch ist eher wie ein warmer Frühlingstag an der Alster – entspannt und ruhig mit vielen kleinen Gesprächsfetzen und Momentaufnahmen. Mit dem Humor und immer wieder neuen Geschichten könnte es jedoch auch ein Kaffekränzchen mit der Familie sein, wie der Generationsroman, der „Flusslinien“ auch sein soll – mit vielen ungeahnten Anekdoten, die ans Tageslicht kommen.

„Flusslinien“
von Katharina Hagena
ISBN: 978-3-462-00729-9
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Preis gebundene Ausgabe: 24€