In Freienwill bei Flensburg gibt es einen großen alten Hof, der etwas abseits vom Ort liegt. Hier leben vier Generationen unter einem Dach: das Ehepaar Thomas und Kirsten, zwei ihrer vier Kinder mitsamt der Enkelgeneration und dazu noch Thomas‘ Vater. Hier, so weit entfernt vom nächsten Nachbarn, mitten in der Natur, ist es trotzdem selten still. Denn hier spielt die Musik.
Thomas und Kirsten haben den alten Hof Mitte der 1990er Jahre erworben. Vor allem Thomas hat es das Haus damals angetan, berichtet Kirsten. „Aber es war eine Riesenbaustelle.“ Als erstes entstand das Tonstudio, eine Zeit lang das einzige in Schleswig-Holstein, in dem eine ganze Big Band gleichzeitig aufnehmen konnte. Später kam dann die Musikschule Antons kleine Welt dazu, die viel mehr als nur eine Musikschule ist. Hier finden Theater- und Chorauftritte statt, es gibt zahlreiche Musikprojekte, die hier ihren Anfang genommen haben.
Die vier Kinder von Thomas und Kirsten sind alle in dem Haus groß geworden: Jella (36), Fynn (33), Glenn (30) und Taleja (25).
Taleja ist das jüngste Kind. Sie lebt seit sieben Jahren in Hamburg, wo sie Percussion studiert hat. Inzwischen spielt sie als professionelle Schlagwerkerin (Sub) bei dem Musical König der Löwen.
Jella ist das älteste Kind und lebt seit zwei Jahren wieder in Freienwill. Vorher hat sie Kontrabass in Lübeck und Berlin studiert, anschließend sieben Jahre lang in Hamburg beim Konservatorium an der Jugendmusikschule unterrichtet. Als vor fast zwei Jahren ihre Tochter Ilvie auf die Welt kam, ist sie mit ihrem Mann Mario (37) zurück nach Freienwill gegangen. Der kommt ursprünglich aus Ostfriesland, hat in Hamburg erst Gitarre und dann Physik studiert.
Das mit dem Zurückgehen nach Freienwill, erzählt Jella, hatte ihr Bruder Fynn auch schon so gemacht. Er und seine Frau Haesun Lee (40) leben mit ihren Kindern Anna und Anton ebenfalls in dem Haus.
Glenn kann bei dem Gespräch in Freienwill nicht mit dabei sein, er muss arbeiten. Jella stellt ihn vor: „Er ist Solobassist im Orchester in Kiel. Wir haben dasselbe studiert. Er hat einfach mehr Ausdauer gehabt und er wollte das auch wirklich machen, eine gute Position hier oben im Norden haben.“
Kontrabassunterricht beim eigenen Vater
Jella und Glenn haben nicht nur dasselbe studiert, sie wurden auch beide von ihrem Vater Thomas unterrichtet. Jella meint, sie wird deswegen total oft gefragt, ob die beiden Kinder zum Üben gezwungen worden seien. Doch Thomas erzählt, dass er mit seinem Unterricht den Druck eigentlich eher rausnehmen wollte. Glenn hatte vorher Geige gespielt, aber zu wenig geübt, wie sein Geigenlehrer der Familie mitteilte. Thomas hat ihm deswegen eine Kontrabassstunde vorgeschlagen: „Bei der Geige weiß man, dass die Konkurrenz nicht schläft, andere haben schon mit drei oder vier Jahren angefangen. Der Konkurrenzdruck beim Kontrabass ist damit überhaupt nicht vergleichbar.“
Ähnlich war es auch bei Jella. „Mit 14 Jahren habe ich am Esstisch gesagt: Ich will Musik studieren“, erinnert sie sich. Ihre Mutter meinte, dafür sei sie mit dem Klavierspielen zu spät dran. „Du brauchst irgendwas, was nicht so viele Leute spielen.“ So kam sie zum Kontrabassunterricht bei ihrem Vater.
Das Haus als Ort zum Musizieren
Eine musikalische Familie – aber das ist sie nicht nur durch den Kontrabassunterricht beim eigenen Vater. „Ich glaub, was ganz viel ausmacht, ist dieses Haus“, meint Kirsten. „Hier ist alles möglich.“
Dabei wollte Thomas den Hof in Freienwill ursprünglich vor allem für ein Tonstudio nutzen. Der 61-jährige kommt aus dem Schwarzwald. Seine Frau Kirsten hat er im Studium in Berlin kennengelernt, wo er klassischen Kontrabass sowie später Jazz- und Pop-Kontrabass und Tontechnik studiert hat. Jetzt ist er an der Universität Flensburg für Musiktheorie und Ensemblespiel tätig.
Als die Familie Mitte der 1990er Jahre nach Freienwill gezogen ist, wusste sie noch nicht, dass neben dem Tonstudio dort auch eine Bühne und eine Musikschule entstehen würden. „Da kann Kirsten gleich ein bisschen was zu erzählen“, kündigt Thomas an.
Kirsten Großmann (59) ist Sonderpädagogin und Rhythmikerin, sie unterrichtet an der Universität Flensburg im Zentrum für Lehrerbildung. Das mit der Bühne im eigenen Haus kam vor allem durch eine Musicalreihe, die sie geschrieben und inszeniert hat. Taleja hat schon mit drei Jahren dort mitgespielt.
Die jüngste Tochter der Familie erzählt: „Es geht immer um diese beiden Hexen Lilly und Luna. Ich bin der dritte Charakter, mit dem sie etwas erleben. Manchmal brauche ich Hilfe, manchmal bin ich böse.“
„Also eigentlich bist du selten böse“, sagt ihre Mutter.
„Ja, meistens brauche ich Hilfe.“ Sie lachen.
Zurück nach Freienwill
Das Haus in Freienwill ist für zwei der vier Kinder nicht nur der Ort, an dem sie aufgewachsen sind, sondern auch der Ort, zu dem sie zurückgekehrt sind. Fynn Großmann und Haesun Lee haben sich im Polizeiorchester Niedersachsen kennengelernt. Er hat Jazz, Komposition und Saxophon studiert. Sie spielt Trompete. Als Kind in Südkorea hat sie eigentlich Klavier und Geige gelernt, erzählt sie. Aber mit 16 oder 17 Jahren, als sie auf eine andere Schule gewechselt ist, kam sie zur Trompete. Sie hat damals neben der Schule jeden Tag sechs bis acht Stunden geübt, mit einem ganz bestimmten Ziel.
Fynn sagt über den Lebenslauf seiner Frau: „Sie hatte schon als Schülerin den Plan, Musik zu machen, um raus aus Südkorea zu kommen. Das ist ein ganz anderer Weg zur Musik als unser mitteleuropäischer. Wir haben uns damals gefragt, was wir machen wollen, wie wir uns selbst verwirklichen können.“
Das selbe Orchester, dieselben Arbeitszeiten – das war für das Paar mit den zwei Kindern natürlich schwierig. Einer der Gründe, warum sie nach Freienwill gegangen sind. Fynn hatte zunächst eine Stelle an der Musikschule in Schleswig, die inzwischen Jella übernommen hat, jetzt steigt er am Gymnasium als Musiklehrer ein.
Die Dorfgemeinschaft, die Nähe zur Familie, die Natur, das gefällt den jungen Familien. Und noch einen Vorteil hat der große Hof in Freienwill: Hier kann man sehr gut Musik machen. Jella sagt, das sei das Schlimmste nach dem Auszug gewesen: Nur noch zwei Zimmer für alle Instrumente, nur noch bis 22 Uhr üben. Fynn erinnert sich: „Als ich in Hannover in der Mietwohnung mal Saxophon gespielt habe, dauerte es keine 20 Minuten, da war der Nachbar von unten da und meinte: „Muss das so laut sein, ich kann den Fernseher gar nicht verstehen!“
Rockstar oder reicher Anwalt?
Vier Kinder, alle haben Musik studiert. Darüber sagt Taleja zu ihrer älteren Schwester: „Jella, du hast den Trend gesetzt.“ Die 36-Jährige hatte vor dieser Entscheidung aber auch viel mit ihren Eltern über die Nachteile des Musikerlebens gesprochen: Dass man auch Sachen spielen muss, auf die man keine Lust hat, dass man nicht viel Geld und keine richtige Absicherung hat. Aber sie wollte das trotzdem – und ihre Eltern haben sie und die anderen Kinder immer unterstützt.
Taleja erzählt, dass sie neulich einen Brief gefunden hat, den sie mit 18 Jahren an ihr Zukunfts-Ich in zehn Jahren geschrieben hatte. „Natürlich durfte ich ihn eigentlich noch nicht öffnen, aber ich war neugierig.“ Darin stand, dass sie sich vorstellen könnte, beim Musical zu arbeiten. Damals dachte sie: als Darstellerin, so wie in den Hexenstücken. Jetzt arbeitet sie als Schlagwerkerin bei König der Löwen.
„Ich weiß nicht, ob ihr euch noch daran erinnert?“, fragt Fynn in die Familienrunde. „Ich habe vor dem Abitur immer gesagt: Ich werde mal reicher Anwalt.“ Doch Rockstar werden sei für ihn dann doch präsenter gewesen. „Damals dachte ich noch, ich spiele dann Welttourneen. Das hat sich nicht bewahrheitet, aber das ist auch in Ordnung so. Ich glaube, es ist auch richtig als junger Mensch, so zu denken.“
Rock- oder Musicalstar ist kein der Geschwister geworden, aber auch nicht reicher Anwalt. Glücklich mit der Musik sind sie alle.
Realitätscheck: Von der Musik leben
Auch wenn alle in der Familie Musik machen: Ein Realitätscheck muss sein.
Mario hat nach seinem Gitarrenstudium noch Physik studiert und darin promoviert. Er arbeitet jetzt beim Bundesamt für Strahlenschutz. „Aber ich mache nach wie vor Musik, gestern zum Beispiel habe ich hier ein Konzert gespielt.“
Auch seine Frau Jella erzählt, dass sie jetzt etwas ganz anderes mache „als diese klassische Schiene“. Sie arbeitet in der Elementaren Musikpädagogik, bald beginnt sie ein berufsbegleitendes Studium in Lübeck in diesem Gebiet. Ihre anfängliche Euphorie für das Musikerinnenleben habe nach dem Studium abgenommen. „Ich habe nach einigen Probespielen gesagt: Ach, wenn das so schwierig ist, dann mache ich es nicht.“
Auch Taleja will sich absichern. Sie macht parallel zu ihrer Arbeit bei König der Löwen eine kaufmännische Ausbildung im Medienbereich. „Das ist ganz ergebnisoffen. Falls ich mal eine kleine Musikschule oder so etwas aufmachen will, sind kaufmännische Grundlagen gut.“
Musikförderung nicht nur Zuhause
Das Landesjugendorchester, die Musical-Projekte an der Schule… Auch wenn sie von Zuhause viel Musik mitbekommen haben, nennen die Kinder noch andere wichtige Stationen, die sie gefördert haben. Und sie hatten schon früh viele Auftritte, bei Gartencenter-Veranstaltungen und Geburtstagspartys. „Vieles davon waren noch nicht mal Mucken, sondern unbezahlt“, so Jella.
Die vielen Projekte haben die Familie Großmann in Schleswig-Holstein bekannt gemacht. Früher seien die Kinder immer gefragt worden, ob sie mit Thomas oder Kirsten Großmann verwandt seien, berichtet Thomas. „Jetzt ist es umgekehrt.“ Stolz berichtet er, dass die Leute immer öfter fragen: „Seid ihr nicht die Eltern von der tollen Jella, von dem tollen Fynn, von dem tollen Glenn und von der tollen Taleja?“
„Wir sind ja nicht die Kelly Family“
Macht ihr Zuhause dann ganz viel Weihnachtsmusik zusammen? Kirsten erzählt, dass sie das häufig gefragt wird. Nein, machen sie nicht. „Wenn man beruflich Musik macht, ist schon genug los, und man spielt nicht auch noch Weihnachtslieder“, springt Taleja ein. Auch Fynn hat auf die Frage eine klare Antwort: „Wir sind ja nicht die Kelly Family.“
Aber an Silvester wird musiziert. Dann zieht die Familie gemeinsam los: zum Rummelpottlaufen. Die Familie würde natürlich nicht einfach „Fru, maak de Dör op!“ singen, sondern „alles vierstimmig“, wie Jella sagt.
Das ginge schon nachmittags los, beim Kostümieren. „Nach der siebten Station können wir es dann richtig“, berichtet Kirsten, „bis auf Fynn.“ Fynn lacht: „Das ist unfair. Sobald Thomas mitsingt, kann ich nicht mehr. Er singt ja super, aber wie er aussieht, wenn er im Regen steht mit seinen Noten und der Taschenlampe, um den Text zu lesen, da muss ich mich jedes Mal totlachen.“
Die Reihe Mensch, Musik! erscheint in Kooperation mit dem Landesmusikrat Schleswig-Holstein. Der erste Teil portraitiert den Komponisten Shaul Bustan, der zweite die Landesfachleiterin für Spielleutemusik Daniela Paulsen: