Sie waschen sich rein, die Ärzte in ihren weißen Kitteln, die Imanuel Humm und Rudi Hindenburg verkörpern. Es ist eine Schlüsselszene im Dokumentarstück „LebensWert“, das im Theater Kiel nun auf der großen Bühne läuft. Das Werk, bei dem Marie Schwesinger für Regie und Text verantwortlich ist, befasst sich mit der Euthanasie in Schleswig-Holstein und dem Schweigen der Ärzteschaft, die nach dem Krieg Täter deckte.
Humm und Hindenburg stehen in der Mitte der Bühne an Waschtischen, gießen sich aus Porzellankannen Wasser über die Hände und schrubben sorgfältig, während eine Stimme aus dem Hintergrund eine Mathe-Aufgabe aus den Schulbüchern des Dritten Reichs zitiert: „Der Bau eines Irrenhauses kostet sechs Millionen Reichsmark. Ein jung verheiratetes Arbeiterpaar braucht für die Erstausstattung 1.000 Mark. Wie viele Paare könnten ausgestattet werden …“
Süßes für das behinderte Kind, mit deutschem Gruß
So viel sei verraten: Die kleine Ellen wird das Dritte Reich nicht überleben. Ihr Gehirn landet auf dem OP-Tisch des Kieler Professor Hans Gerhard Creutzfeld – jener Creutzfeld, der als Mit-Entdecker der Creutzfeld-Jakob-Krankheit bekannt wurde und der noch lange nach dem Krieg in Kiel lehrte und Patient:innen behandelte. Patient:innen loben Creutzfeld durchaus, zum Beispiel der Rendsburger Fritz Niemand. Er kam der 1934 in ein Marinelazarett und lebte jahrelang in verschiedenen Anstalten. Er wurde zwangssterilisiert, wie rund 400.000 Menschen im Dritten Reich, die als „erbkrank“ galten. Nur knapp entging er der Euthanasie, dem „schönen Tod“, wie die Ermordung von psychisch und geistig Kranken zynischerweise hieß. Rund 70.000 Kinder, Frauen und Männer fielen ihr zum Opfer.
Während die zynische Aufgabe verklingt, treten die Schauspielerinnen Jennifer Böhm und Yvonne Ruprecht an den Bühnenrand und zitieren aus einem Briefwechsel zwischen einer Mutter und der Oberin in der Kinderfachklinik am Schleswiger Hesterberg. Es geht um die „kleine Ellen“, die in der Klinik lebt. Die Mutter hat keine Zeit für einen Besuch, sie erwartet wieder ein Kind, und der Gatte weilt im Osten, wo er im Auftrag des Führers den Boden für deutsche Siedler bereitet. Aber sie erkundigt sich liebevoll nach ihrer Tochter, schickt Socken und Süßigkeiten, stets mit deutschem Gruß.
Sprechchöre sind ein Kernelement
Und die Ärzteschaft? Will nach dem Krieg gar nichts gewusst, gehört, geahnt haben. „Höchstens Gerüchte – nicht Genaues – eigentlich nie – aber nicht in Schleswig-Holstein“. Solche präzise inszenierten Sprechchöre, in denen sich die vier Akteur:innen die Zitate zuwerfen, sind ein Kernelement des Stücks. Es basiert auf Briefen, Akten, Zeitungsartikeln, die Regisseurin Marie Schwesinger (Text und Regie) und der Kieler Dramaturg Jens Paulsen sammelten und aufbereiteten.
„Euthanasie? Aber nicht in Schleswig-Holstein“
Aus „LebensWert“
Die Ausstattung auf der Bühne ist fast karg, es herrschen Schwarz, Weiß und Grautöne vor. Nur wenige Requisiten stehen zur Verfügung. Die größten sind vier Glasscheiben auf Rollen, die die Bühne umrahmen oder aufteilen. Auf sie schreiben die Akteur:innen am Ende des Abends die Namen von Opfern: Ellen Carl, Lieselotte Schümann, Fritz Niemand und viele andere.
Der Heyde-Sawade-Skandal
Im Zentrum des zweistündigen Theaterabends stehen aber die Täter, vor allem der Heyde-Sawade-Skandal. Der Psychiater und Neurologe Werner Heyde war an der „Aktion T4“ beteiligt, die die Massentötung von Behinderten vorbereitete – die Abkürzung steht für die Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin, wo die Zentrale saß. Nach dem Krieg floh Heyde nach Flensburg, nahm den Namen Fritz Sawade an und arbeitete jahrelang als Gutachter für Gerichte und Versicherungen in Schleswig-Holstein. Rund 7.000 Gutachten soll er verfasst haben, auch über Opfer der NS-Psychiatrie wie Fritz Niemand. Ihnen wurde oft eine Anerkennung oder Entschädigung verwehrt: Sie seien schließlich nicht politisch verfolgt gewesen.
Dass Sawade in Wahrheit Heyde hieß, war vielen bekannt, so zeigen es die im Stück verwendeten Texte. Aber er wurde gedeckt, auch von Creutzfeld. Als Heyde 1959 aufflog, lag das nicht etwa an seinen Taten in der NS-Zeit, sondern an nächtlicher Ruhestörung, von der sich ein Kieler Professor belästigt fühlte und Heydes Identität nebenbei enthüllte. Heyde wurde angeklagt und tötete sich kurz vor Prozessbeginn in seiner Zelle.
Wie schnell die Euthanasie in Vergessenheit geriet, zeigt auch der Fall Werner Catel. Der Kinderarzt tötete Ende der 1930er Jahre ein behindertes Kleinkind und war Gutachter des „Reichsausschusses“, der über Tötungen entschied. Dennoch wurde er nach dem Krieg entnazifiziert und erhielt 1954 den Lehrstuhl für Kinderheilkunde in Kiel, trotz seiner Karriere in der NS-Zeit. 1960 ging er aufgrund öffentlichen Drucks vorzeitig in den Ruhestand, blieb seinen Überzeugungen aber treu. So sprach er sich 1964 in einem Interview mit dem „Spiegel“ dafür aus, „idiotische“ Kinder zu töten. Die Ermordung der „Monstren“ solle der Hausarzt übernehmen, nachdem eine Kommission aus (männlichen) Fachleuten sowie „eine Frau, eine Mutter“ den unheilbaren Zustand festgestellt habe.
Am Ende stehen Fragen
Der Abend endet mit den Opfern. Und mit Fragen, die die vier Schauspieler:innen in den Zuschauerraum rufen: Warum gibt es keine Anerkennung der Leiden der Ermordeten oder Zwangssterilisierten? Warum keine Prozesse gegen Ärzte, die sich an der Euthanasie beteiligten? Und warum trägt ein Studierendenwohnheim in Kiel immer noch den Namen des SA-Mannes Wilhelm Hallermann?
Die nächsten Aufführungen
Mittwoch, 27. März
Donnerstag, 28. März
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Samstag, 20. April

