Wer das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte im Schloss Gottorf in diesen Tagen besucht, stößt dort ganz unverhofft im Saal Friedrichs III. auf ein bewegendes Video. Darin läuft der Darsteller, genauso wie man selbst, durch die Räume eines Museums, bis er schließlich vor einem Bild stehen bleibt. Sein Körper ist erstarrt, das Gesichts ausdruckslos, der Blick leer – er zeigt die Reaktion eines Menschen, der ein Trauma noch einmal durchlebt. Er dissoziiert. Er denkt an die Freunde, die er auf dem Meer verloren hat. Und so lautet auch der Titel des Videos von Henrik Lund Jørgensen.
Szenenwechsel: Ein kalter Tag am Meer. Eine Gruppe von Männern stellt dort Bilder aus dem Museum nach. Sie stammen von Michael Ancher, einem der bekanntesten Maler der Künstlerkolonie Skagen im hohen Norden Dänemarks. Während sich seine Ehefrau Anna Ancher in ihren Werken vor allem auf das Leben der Frauen und Kinder in dem Fischerdorf Skagen fokussierte, richtete Michael Ancher seinen Blick meistens auf das Meer. Viele seiner Bilder zeigen Fischer – und Tote.
Ein Mann im leuchtend gelben Friesennerz
Die Männer im Video, die Michael Anchers Werke Wird er es um die Landspitze schaffen? und Die Mannschaft gerettet nachstellen, sind ähnlich wetterfest gekleidet wie ihre historischen Vorbilder. Ein Mann im leuchtend gelben Friesennerz sticht besonders hervor. Doch etwas unterscheidet die Menschen im Video (2008) von den Figuren Michael Anchers (Ende des 19. Jahrhunderts): Sie sind ethnisch divers. Somit erinnern sie an Boat People, Bootsflüchtlinge, die fliehen anstatt zu fischen. Viele von ihnen gingen und gehen verloren: ein Massengrab im Mittelmeer.


Michael Ancher, Mandskabet reddet (Die Mannschaft gerettet), Öl auf Leinwand, 1894, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen
Aus Die Mannschaft gerettet wird durch diese Auswahl der Schauspieler ein Moment von vielen, die zusammengenommen eine Flucht ergeben; ein Prozess, der sich häufig über Jahre erstreckt. Henrik Lund Jørgensen zieht diesen Moment durch das minutenlange Halten der Posen künstlich in die Länge. Dadurch bietet er uns Gelegenheit, genau hinzuschauen: Die Menschen sehen nicht erleichtert aus, sie wirken ernst und erschöpft. Der europäische Strand ist für sie nur bedingt das rettende Ufer, das es noch für Michael Anchers Fischer dargestellt hat. Wer die Bootsfahrt überlebt hat, steht vor der nächsten Ungewissheit und der Frage ins Leere: Wie wird es weitergehen?
Auch wenn online Ausschnitte des Videos verfügbar sind, empfiehlt es sich, es in voller Länge und Größe im Schloss Gottorf zu schauen. Es ist dort noch bis zum 3. November 2024 zu sehen.