Einer der prägnantesten Sätze im ansonsten schwer verständlichen Hauptwerk „Minima Moralia“ von Theodor W. Adorno lautet: „Aufgabe der Kunst ist, Chaos in die Ordnung zu bringen.“ Wenn man sich mit dem Leben und Werk Adornos beschäftigt und weiß, dass dieser Satz Mitte der 1940er Jahre im amerikanischen Exil geschrieben wurde, beginnt sich dessen Bedeutung zu erschließen. Die Welt war damals tatsächlich in chaotischer Aufruhr, geschuldet der politischen und sozialen Umstände der Zeit.
Adorno, inmitten dieser Wirren, sah die Kunst als Medium der Auflehnung gegen starren Dogmatismus und Mechanismen der Macht. Kunst sollte nicht nur ein Spiegel ihrer Zeit sein, sondern den Mut haben, bestehende Ordnungen zu hinterfragen und aufzulösen.
Update für Adorno
Betrachtet man jedoch diesen Satz im Kontext unserer gegenwärtigen, oft unübersichtlichen Welt, mag er zunächst irritieren. Es stellt sich die Frage: Gibt es nicht schon mehr als genug Chaos in der Welt? Sollte es nicht vielmehr Aufgabe der Kunst sein, hier für Ordnung zu sorgen? In einer Welt, die von Krisen, Konflikten und komplexen Herausforderungen geprägt ist, könnte man meinen, es sei an der Kunst, Klarheit zu schaffen und Orientierung zu bieten.
Doch Adorno war der Überzeugung: Wo es allzu ordentlich zugeht – in seinem Verständnis – herrschen meist totalitäre Verhältnisse. Hier kam bei ihm der Begriff „Identität“ ins Spiel: Für Adorno ist Identität ein Konzept, das Unterschiede und Individualität negiert, indem es versucht, alles zu vereinheitlichen. Adorno kritisierte die Tendenz, komplexe und vielfältige Wirklichkeiten auf einfache, eindeutige Begriffe zu reduzieren. Diese unterdrücken Kritik und unterbinden Fragen, was der eigentlichen Essenz der Kunst entgegensteht. Kunst sollte stets hinterfragen, kritisch sein und alles, was als sicher erscheint, in Zweifel ziehen.
So betrachtet, mag Adornos Satz auch heute noch aktuell sein. Doch vielleicht bedarf es einer zeitgenössischen Umdeutung. Ich erlaube mir daher, ihn folgendermaßen zu reformulieren: „Aufgabe der Kunst ist es, Ordnung in das Chaos zu bringen.“ Das soll keinesfalls bedeuten, dass die Kunst totalitär werden soll. Vielmehr kann eine Welt, die zunehmend unübersichtlicher, komplexer und für viele Menschen bedrohlicher wirkt, von der Kunst eine Art Orientierungshilfe erhalten. Diese Orientierung sollte Raum für kreativen Widerstand, neue Ideen und zivilen Mut schaffen.
Der Begriff „Ordnung“ stammt aus dem Lateinischen und bedeutet ursprünglich, etwas zu regeln und in eine gewisse Reihenfolge zu bringen. Die Ordnung im Chaos könnte also darin bestehen, den Fokus auf das Wesentliche zu lenken: auf Werte, Solidarität, Zusammenarbeit und Nachhaltigkeit. Kunst kann aufzeigen, was wirklich wichtig ist, und dass wir als Spezies nur dann erfolgreich sind, wenn wir Probleme gemeinsam angehen.
Kunst als Kompass
Was kann die Kunst also beitragen? Wir sollten ihre Rolle nicht überstrapazieren, doch sie hat die Macht, uns an das wahrhaft Menschliche zu erinnern. Sie kann helfen, Struktur im Chaos unserer Welt zu finden, indem sie unsere Hoffnung und unseren Glauben an eine bessere Zukunft stärkt. Kunst, die uns inspiriert, die Fragen stellt und Denkanstöße gibt, kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass wir, trotz aller Herausforderungen, einen klaren Kopf behalten und mutig nach vorne schauen.