Der Filmemacher Hark Bohm, bekannt für Nordsee ist Mordsee und Aus dem Nichts, hat nun – im Alter von 85 Jahren – sein erstes Buch veröffentlicht, gemeinsam mit Philipp Winkler. Auch wenn es nicht autobiografisch ist: Ein paar Ähnlichkeiten zwischen Hark Bohms Kindheit und der seines Protagonisten Nanning Hagener gibt es doch. Beide sind während des Zweiten Weltkriegs auf Amrum aufgewachsen. Nanning droht das, was Hark Bohm mit zwölf Jahren widerfahren ist: Er musste die nordfriesische Insel verlassen, um in Hamburg die Schule zu besuchen. Nanning sagt darüber: „Ich kenn da keinen, und die lachen mich schon wegen mein‘ Namen aus.“
Ein Kind mit einem friesischen Vornamen und einem deutschen Nachnamen, die Mutter Nationalsozialistin, die Tante Sozialistin. Eine Insel am Rande von Hitler-Deutschland, die trotzdem nicht das Ende der Welt ist. Das Bild von der Inselidylle ist schnell zerstört: Ja, auch hier gab es Nazis. Ja, auch hier fand der Krieg statt. Um Treibstoff zu sparen, warfen US Air Force und Royal Navy die Bomben ins Watt, die sie nicht über dem deutschen Festland loswerden konnten.

Hark Bohm und Philipp Winkler: Amrum. Roman
Berlin: Ullstein Verlag
23,99 Euro, 304 Seiten
ISBN: 9783550202698
Die letzten Kriegstage
Die Ausgangslage der Erzählung – ein Kind im Krieg in Nordfriesland – erinnert an Deutschstunde, das Buch von Siegfried Lenz über den Maler, der Emil Nolde ähneln sollte, als man noch dachte, der sei einer von den Guten gewesen.
Auch in (oder vielmehr auf) Amrum ist nicht immer ersichtlich, wer wo steht. Der Roman spielt in den letzten Kriegstagen, in denen so manch einer noch schnell die Seiten wechselt. Und die Rollen: In der Trümmergesellschaft, aus Frauen, Kindern, Alten bestehend, geht Nanning plötzlich nicht mehr in die Schule. Stattdessen sorgt er dafür, dass seine schwangere Mutter eine Suppe aus Kiebitzfleisch und -eiern essen kann.
Eine Kleiner-Junge-Geschichte
Interessante Figuren, Orte und Themen. Die wichtigsten Voraussetzungen für ein gutes und spannendes Buch sind zunächst erfüllt. Doch es wird aus der Sicht eines Kindes geschildert, das nicht alles versteht, was um es herum geschieht (und dennoch nicht so naiv ist wie Der Junge im gestreiften Pyjama), sich für ganz andere Dinge interessiert.
Amrum ist vor allem die Geschichte eines kleinen Jungen in den 1940er Jahren. Es geht um lauter Kleiner-Junge-Themen aus dieser Zeit, es geht um Amerika, ums Jagen und Segeln, um „Cowboy und Indianer“-Spiele und Vogelbeobachtungen. Das ist seine Welt. Vielleicht ist er in dieser Geschichte der falsche Erzähler? Denn die Welt der Erwachsenen ist die eigentlich spannende.
Show, don’t tell
Hark Bohms Beschreibungen erinnern an Kamerafahrten. Totale: Dünenansicht, Halbtotale: Möwenkolonie, Nahaufnahme: Sandregenpfeifer landet zwischen brütenden Möwen. Die Tonspur liefert Hark Bohm mit seiner lautmalerischen Sprache gleich mit. In nur einem Absatz rumpelt ein Gespann, gorkeln Hühner, tschilpen und picken Spatzen.
Hark Bohms Schritt-für-Schritt-Beschreibungen sind detaillierter als so manche Regieanweisung – als wolle er die Kontrolle über sein Werk (schließlich ein wenig auch seine Kindheit) behalten, auch wenn ein anderer Regie führen wird, und zwar: Fatih Akin. Die Verfilmung des Romans ist bereits in vollem Gange. Die Dreharbeiten in Hamburg haben diesen Monat begonnen, natürlich wird auch auf der nordfriesischen Insel gedreht werden.
Obwohl sich Hark Bohm und Nanning Hagener so nahe sind, fehlt dem Roman die Innenperspektive. Hark Bohm ist Filmemacher, der seine Umgebung wie durch eine Kamera wahrnimmt – und leider fast jede Bewegung aufzeichnet. So beschreibt er das Auseinandernehmen eines Kaninchens auf ganzen acht Seiten. Er erklärt Orte und Begriffe, als wolle er nicht eine Amrum-Geschichte, sondern eine Amrum-Historie schreiben.
Der Autor steht sich damit selbst im Weg. Denn zwischen den Zeilen bleibt wegen dieser ausladenden Beschreibungen kein Platz mehr. Da ist keine Raffinesse, nichts Subtiles. Show, don’t tell – eigentlich eine Regel für Filme und Bücher – findet hier zu wenig statt.
Gelungene Momentaufnahmen
Doch da sind einige gelungene Momentaufnahmen. Die Charaktere sind spröde und wortkarg. Wie könnte es anders sein, so weit oben im Norden? Manchmal liegt in ihren kurzen Dialogen, die sich vor allem um Essensbeschaffung drehen, aber so viel mehr. „Solange wir keinen Totenschein haben, ist dein Vater lebendig“, sagt Nannings Tante. Hitlers Tod wird natürlich über das Radio verkündet, eine großartig umgesetzte Szene, in der alle Familienmitglieder ganz unterschiedlich auf die Nachricht reagieren.
Schlussendlich: Hark Bohm ist ein großartiger Filmemacher. Aber leider kein guter Romancier. Das ist schade um den guten Stoff. Was Fatih Akin daraus machen wird? Darauf dürften wir umso gespannter sein.