Ein Abend im Zeichen der Sehnsucht – Bomsori Kim

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Ein italienischer Abend im Reitstall, voller Sehnsucht und unerfüllter Liebe: Die Geigerin Bomsori Kim und das Philharmonische Orchester Lübeck spielten am 11. Juli beim Schleswig-Holstein Musik Festival Peter Tschaikowsky und Ermanno Wolf-Ferrari.

Venedig ist dieses Jahr der Gastort des Schleswig-Holstein Musik Festivals – und Italien das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Der Sehnsuchtsort, der im Meer unterzugehen droht, in dem Sehnsuchtsland der Deutschen. Man sieht dem Publikum, das Wein trinkend auf den Konzertbeginn wartet, an, dass es sich zumindest für diesen lauen Sommerabend all das wünscht, was Italien für uns verkörpert. Eine der vielleicht bekanntesten Deutschen, die es nach Italien gezogen hat, die Schriftstellerin Cornelia Funke, hat im Gespräch mit dem Zeit Magazin nach ihrem Umzug über das Leben in der Toskana gesagt: „Seine Freunde sehen, essen gehen, das sind die wichtigen Dinge. Das finde ich fantastisch.“ La dolce vita.

Ein Mann trägt ein gelbes Hemd mit aufgedruckten Zitronen, passend zur ländlichen Umgebung. Doch in der Konzertstätte in Elmshorn wachsen keine Südfrüchte, hier geht es normalerweise diszipliniert und konzentriert zu: Es handelt sich um die unter Denkmalschutz stehende Alte Reithalle des Holsteiner Verbandes, direkt angrenzend an die Ställe So verwundert es nur ein wenig, dass zwischen all den hell und bunt gekleideten Menschen ein Mann mit einer Gans an der Leine durch die Menge läuft. Wenn man die Halle betritt, bittet einen ein Schild „Vor dem Verlassen abäppeln“. Es riecht aber nur nach Heu und den Parfums der Besucher*innen.

Ein Abend im Zeichen der Sehnsucht beginnt. Das Programm paart bekanntere mit unbekannteren Werken, zwei Tschaikowsky-Stücke umarmen ein Violinkonzert des Deutschitalieners Wolf-Ferrari. Was sie alle drei eint: das Thema der unerfüllten Liebe.

Peter Tschaikowsky: Romeo und Julia. Fantasie-Ouvertüre nach Shakespeare

Zu Tschaikowskys Zeiten (1840­­­­­–1893) war diese Geschichte von den zwei jungen Liebenden, deren Beziehung nicht sein darf, noch nicht so tausendfach erzählt und zitiert wie heute. Vielleicht gelingt es ihm gerade deswegen so gut, uns deren Quintessenz zu zeigen: Er vereint das Träumende (zupfende Streicher und Harfen) mit dem Zerstörerischen (Paukenschläge).

Es gibt unglaubliche Tempowechsel, die den Irrsinn dieser Teenagerliebe zeigen: Sehenden Auges begeben sich Romeo und Julia in ihr eigenes Unglück, nicht obwohl, sondern gerade weil sie zum Scheitern verurteilt sind. Ihre Liebe ist maßlos, übertrieben, anstrengend – und so ist auch die Musik.

Ermanno Wolf-Ferrari: Violinkonzert D-Dur op. 26

Ein Jahrhundert nach Tschaikowsky und fast vier Jahrhunderte nach Shakespeare: Der Venezianer Ermanno Wolf-Ferrari (1876–1948) schrieb dieses Violinkonzert für die Geigerin Guila Bustabo. Vieles deutet darauf hin, dass die beiden etwas anderes als eine Freundschaft verband. Das Rondo finale enthält eine der längsten Solokadenzen der Musikgeschichte: ein Geschenk des Komponisten an die Geigerin, die er so bewundert.

Auftritt der Solistin Bomsori Kim: Im ersten Satz Fantasia scheint sie das Orchester mit ihrer Leichtigkeit zu verführen, fliegend, hüpfend, herumwirbelnd. Wolf-Ferrari soll darin das Wesen seiner Geliebten eingefangen haben. Weiter geht es mit der Romanza: Jetzt schmilzt Bomsori Kim gemeinsam mit dem Orchester dahin – in ihrem Geigenspiel, aber auch wenn sie kurz pausieren darf. Dann wiegt sie sich mit geschlossenen Augen im Takt der Musik, hält ihre Geige im Arm oder lächelt verschmitzt. Man glaubt ihr sofort, was sie in einem Interview mit dem BR gesagt hat: „Es ist auch eine große Freude, mit andere MusikerInnen durch die Musik zu kommunizieren. Durch die Musik können wir uns wirklich untereinander verbinden. Wir können den Sprachbarrieren trotzen. Es ist eine sehr mächtige, fast die einzige Art zu kommunizieren.“

Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck © Jan Philip Welchering

In diesem Moment fügt sich alles so gut zusammen wie zwei Liebende, die einander in den Armen liegen. Die Sonne beleuchtet die Spinnweben auf der Empore der Reithalle und selbst als jemandem im Publikum etwas herunterfällt, nimmt das Stück das Geräusch auf und setzt es behutsam zu den anderen Tönen.

Es geht in die Pause. Das Publikum spricht über die Solistin. Es fallen Worte wie virtuos, enorm und fantastisch. Die Pferde schnauben zustimmend.

Peter Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36

Die Sinfonie hat Tschaikowsky in Venedig geschrieben, wo er sich vom wohl größten Liebeskummer seines Lebens erholen musste. 1877 hatte er geheiratet und seine Ehefrau kurz darauf wieder verlassen. Daraufhin erlitt er einen Zusammenbruch, versuchte sich selbst umzubringen.

Dementsprechend ist auch das Stück gestaltet: Es beginnt mit den kräftigen Schlägen des Schicksals im ersten Satz, geht im zweiten in Schwärmereien über, um ganz unerwartet auszuruhen. In den weiteren Sätzenwendet sich die Musik dann anderen Themen zu als der verlorenen Geliebten, wird eher zum Volksfest. Als trinke man ein Glas Wein, hat Tschaikowsky in einem Brief geschrieben, in dem er seine Sinfonie erklärte.

Wer die Sinfonie bislang noch nicht gehört, aber die Anna Karenina-Verfilmung von Regisseur Joe Wright gesehen hat, erlebt ein Déjà-entendu, einen Schon-gehört-Moment: Das selbe russische Volkslied taucht im Finale von Tschaikowskys Sinfonie und als Zitat in dem Soundtrack von Dario Marianelli auf. Unweigerlich verbindet man den Abend also mit einer vierten tragischen Liebesgeschichte: die unglücklich verheiratete Anna Karenina und ihr Geliebter Graf Wronskij. Sie sind nicht so lächerlich jung wie Romeo und Julia, doch auch ihre Geschichte scheitert an ihrem Umfeld – dem gesellschaftlichen, nicht dem familiären.

Vielleicht sind das auch zu viele Sehnsuchtsgeschichten für einen Abend, das Programm wirkt durch die Länge des Violinkonzerts und der Sinfonie etwas überfrachtet. Publikum und Orchester wären besser gemeinsam mit der Solistin nach Hause gegangen. Dann hätte man beim Verlassen der Reithalle auch nicht die Abendkühle gespürt, die einen daran erinnert: Wir sind in Norddeutschland, nicht in Venedig.

Das Konzert fand einen Tag zuvor in Rendsburg statt – dort wurde es vom NDR aufgenommen. Am 28. Juli 2024 um 11 Uhr wird es auf NDR Kultur gesendet.

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