Schnörkel und Kanten: Pianist Martin Stadtfeld beim SHMF

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Was ist eigentlich Kitsch? Oder anders gefragt: Wo hört Romantik auf und fängt Kitsch an? Kitsch, würde ich sagen, das ist ein Seufzer zu viel in einem Liebesroman, wenn ein Kinderchor einmal zu oft in einem Lied ertönt oder mehr als ein lachender Engel in einer Barockkirche.

Romantisch zu sein, aber nicht kitschig, erfordert Fingerspitzengefühl – eine hohe Kunst. Der Pianist Martin Stadtfeld beherrscht diese Kunst und die Barockkirche in Rellingen auch. Wie gut, dass die beiden dieses Jahr beim Schleswig-Holstein Musik Festival zusammengekommen sind.

1756 wurde die Barockkirche in Rellingen erbaut und bereits seit Beginn des Schleswig-Holstein Musik Festivals in den 1980er Jahren ist sie ein Spielort – denn durch die Holzvertäfelungen und die hohe Kuppel ist die Akustik ganz wunderbar. Und während der Konzerte lässt sich in den prunkvollen Verzierungen so einiges entdecken: Schnörkel und Figuren und noch mehr Schnörkel.

Martin Stadtfeld: Pianist und Musikvermittler

Der Pianist Martin Stadtfeld © Ingrid Hertfelder

Schnörkel finden sich auch in der Musik des Abends. Martin Stadtfeld hat das Programm eigens für das Festival zusammengestellt, im Mittelpunkt steht Venedig. Aber eigentlich steht Johann Sebastian Bach im Mittelpunkt, Martin Stadtfelds Lieblingskomponist.

Der Pianist ist gleichzeitig auch ein Musikvermittler – das wird am 22. Juli in Rellingen deutlich. Ruhig, aber mit spürbarer Leidenschaft, führt Martin Stadtfeld durch das Programm: Werke von Bach, Liszt, Wagner und Galuppi sowie Improvisationen über Musik von Vivaldi.

Die Melodien Venedigs: „wie von Glasbläsern angefertigt“

Viele der Stücke sind lieblich. Martin Stadtfeld selbst spricht davon, dass er die Melodien Venedigs mit Leichtigkeit verbindet, sie seien „etwas Schwebendes, Wasser- und Luftspiegelungen, wie von Glasbläsern angefertigt“. Seine Worte könnten kitschig sein, wenn er sie nicht so überzeugt und ehrlich vortragen würde. Denn Kitsch ist immer auch eine Übertreibung, die man nicht so ganz glauben kann.

Martin Stadtfelds Worten kann man ruhig Glauben schenken, denn während er Vivaldis Winter spielt, werden die Marmorsäulen zu Schlieren im Wasser, wenn er schneller wird, sieht man in den Verzierungen der Holzvertäfelungen wilde Wellen. Die Töne scheinen die Goldschnörkel entlangzulaufen, wo sie auf andere Töne treffen und gemeinsam Kreise ziehen.

Stücke mit Strahlkraft

Und warum ist das jetzt kein Kitsch, diese Vereinigung der Melodien mit ihrer Umgebung, Barockmusik mit Barockkirche? Kitsch, das ist auch, wenn das Glück nie gebrochen wird. Wenn Liebende seufzen, Kinderchöre singen, Engel lachen – und ansonsten nichts passiert. Aber Martin Stadtfelds Lieblingskomponist ist Bach, bei dem so viel mehr geschieht. Er spielt dessen Englische Suite No. 2 und erklärt vorher, was Bach vom Venezianer Vivaldi gelernt hat: das Süße, die Schwerelosigkeit, das Kreisen der Melodien. Trotzdem ist die Suite klarer und fester als die vorigen Stücke. Martin Stadtfeld haut ordentlich in die Tasten und krümmt sich über dem Klavier zusammen.

Vor dem letzten Stück erzählt Martin Stadtfeld von Brahms, obwohl es von Liszt stammt. Der junge Brahms war einige Tage im Hause Liszt zu Besuch. Nach seiner Ankunft spielte Liszt ihm und den anderen Besuchern seine h-Moll-Sonate vor, inklusive ausschweifender Ausführungen zu dem Stück – und der von der Reise erschöpfte Brahms schlief ein.

Wenn man das Stück hört, kann man sich nicht vorstellen, dass diese Geschichte stimmt, denn es enthält lauter Ungefälligkeiten, wie Pausen, nach denen überraschend und kraftvoll weitergespielt wird: ein Stück mit Strahlkraft, kein Gute-Nacht-Lied. Martin Stadtfeld muss anschließend noch zwei Zugaben spielen, damit das Publikum mit einer ruhigen Abendmelodie im Ohr nach Hause gehen kann.

Über der Kanzel der Kirche in Rellingen hängt anstelle eines Kreuzes ein Dreieck mit Strahlen – das Symbol, das den ägyptischen Sonnengott Ra, die Dreifaltigkeit im Christentum und den Aufklärungsgedanken der Freimaurer vereint: Leben, Licht und Erleuchtung. Das Dreieck sticht mit seinen Kanten zwischen all den Schnörkeln hervor. Man könnte meinen, Martin Stadtfeld habe den Abend passend zur Inneneinrichtung der Kirche gestaltet – und solch eine gelungene Komposition kann kein Kitsch sein.

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