Zivilcourage im Theater und im Alltag – Ein Gespräch mit Denise von Schön-Angerer

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Am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, versammelten sich unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ laut Polizei 9.000 Menschen auf dem Kieler Rathausplatz, um ein Zeichen gegen das Vergessen und für Demokratie zu setzen. Die beeindruckende Menschenkette und die Gedenkveranstaltung zeigten, wie groß das Bedürfnis ist, sich aktiv gegen Rechtsextremismus zu positionieren. Eine der Organisatorinnen war Denise von Schön-Angerer, Theaterpädagogin am Theater Kiel. Seit ihrer Jugend setzt sie sich gegen menschenfeindliche Ideologien ein – geprägt durch persönliche Erfahrungen und ihre Arbeit in Sachsen. Mit kulturkanal.sh spricht sie über ihre politische Prägung, ihre Theaterarbeit als Form des Widerstands und die Notwendigkeit, sich gerade jetzt öffentlich zu positionieren.

Liebe Denise, du warst eine der Organisatorinnen, das Theater Kiel mit dem Format „Bühne für Demokratie“ Mitveranstalter. Welche Bedeutung hatte die Gedenkaktion für dich persönlich?

Denise von Schön-Angerer: Es macht mich sehr glücklich, dass so viele Menschen am 27. Januar teilgenommen haben. Seitdem haben mich viele positive Reaktionen und liebe Worte erreicht. Dafür bin ich dankbar. Die Menschenkette war ein unglaublich starkes Symbol. Sie gibt uns das Gefühl, nicht allein zu sein. Und das hilft, Kraft zu schöpfen für alles, was jetzt gerade passiert.

„Wir hatten das Gefühl, ganz Kiel hatte nur auf eine erste Aktion für Menschlichkeit vor den Wahlen gewartet.“

Du spielst an auf den Versuch von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, mit Stimmen der rechtsextremen AfD eine Verschärfung des Migrationsrechts im Bundestag durchzusetzen. Das hat im ganzen Bundesgebiet Proteste ausgelöst. Prominente Parteimitglieder – zum Beispiel der Publizist und frühere Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses Michel Friedman – traten aus der CDU aus. Am Wochenende demonstrierten 160.000 Menschen in Berlin, mindestens 65.000 Menschen in Hamburg, in Kiel etwa 14.000. Die Gedenkveranstaltung am Montag wirkt da rückblickend wie der Auftakt zu einer Ereignis- und Protestreichen Woche.

Unsere ersten Ideen für die Gedenkveranstaltung hatten wir im Herbst 2024, damals dachten wir, es kommen vielleicht 250 Menschen an einem Montagnachmittag im Winter. Durch die enorme Resonanz unseres Social-Media-Posts Mitte Januar konnten wir schon ahnen, dass es mindestens 1.000 Menschen werden könnten. Dann kamen 9.000. Wir hatten das Gefühl, ganz Kiel hatte nur auf eine erste Aktion für Menschlichkeit vor den Wahlen gewartet. Ich denke, auch ohne diese moralisch absolut verwerfliche Aktion der CDU unter Friedrich Merz, die offensichtlich nur dem eigenen Wahlkampf dient, hätte es weitere Demonstrationen gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft gegeben. Man muss auch zugeben, dass viele demokratische Parteien auf kommunaler Ebene oder in den Landtagen schon lange mit den Stimmen der AfD arbeiten müssen, um überhaupt arbeitsfähig zu sein. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum die Demonstrationen in diesen Gegenden scheinbar nicht so groß sind, da der Fall der Brandmauer dort leider schon alltäglich ist.

Nach Stationen in Zittau und Chemnitz ist Denise von Schön-Angerer seit 2022 Theaterpädagogin am Theater Kiel. Die Gedenkaktion zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar auf dem Kieler Rathausplatz hat sie organisiert. Foto: Pepe Lange

In deiner theaterpädagogischen Arbeit setzt Du Dich seit vielen Jahren immer wieder mit Rechtsextremismus auseinander.

Stimmt. Das Thema ist leider durchgehend aktuell gewesen. Und auch schon vor meiner beruflichen Laufbahn habe ich mich gegen Menschenfeindlichkeit und Faschismus engagiert. Als Zeitzeug*innen der Verbrechen des NS-Regimes haben mir meine Großeltern schon früh viel berichtet.

Haben ihre Berichte dein politisches Bewusstsein geprägt?

Definitiv. Aber nicht nur die. Ich bin in den 1990er Jahren in einem kleinen Dorf in Ostsachsen aufgewachsen. Das waren die sogenannten Baseballschlägerjahre. Die Arbeitslosigkeit war hoch und viele gaben „den Ausländern” die Schuld. Gleichzeitig wurden im Fernsehen ständig Witze über „dumme, faule Ossis“ gemacht. Es war normal, aufmerksam durch die Straßen zu gehen und die Straßenseite zu wechseln, wenn einem junge Männer mit Bomberjacken und Springerstiefeln entgegen kamen. Mit 13 musste ich das erste Mal vor Nazis wegrennen. Mit 14 besuchte ich erstmals den linken Jugendclub bei uns im Dorf und sammelte bald erste Erfahrungen in der Durchführung aktivistischer Aktionen. Im Nachbardorf war die Nazidisco, dort waren fast alle Jugendlichen rechtsextrem. Ich erinnere mich an eine Autofahrt mit meinen Eltern durch das Dorf, Ende der 1990er Jahre. Die NPD feierte Sommerfest – da war viel los. Es gab eine lange Autoschlange, eine Hüpfburg, und stolze Deutsche mit ihren als Nazis verkleideten Kindern – es war schockierend.

Wie war die Situation, als du mit deiner Arbeit als Theaterpädagogin begonnen hast?

Meine ersten Theaterjahre verbrachte ich in Zittau, dann ab 2013 in Chemnitz. Die Lage hatte sich zu der Zeit scheinbar beruhigt. Die NPD spielte zum Beispiel kaum noch eine Rolle. Ich erinnere mich an den ersten AfD-Stand in der Innenstadt. Sie forderte damals den Austritt aus der EU. Und ich erinnere mich daran, dass ich der Ruhe nicht traute. Ich dachte: „Was passiert da? Vernetzen die sich vielleicht grade unter bürgerlichem Deckmantel?“ Wenig später folgten die Aufmärsche von Pegida, Cegida und wie sie alle hießen. Spätestens dann konnte ich meine Arbeit am Theater immer wieder mit meinem Aktivismus verbinden. Wir tourten für mehrere Jahre mit einem Klassenzimmerstück durch das Erzgebirge. Es handelte von einem jungen Mann, der in die rechte Szene abrutscht. Bei den Nachgesprächen konnten wie die Radikalisierung der AfD und Normalisierung ihrer Parolen live verfolgen.

Gab es einen besonders erschreckenden Moment in deiner Theaterarbeit?

Ein großes Theaterprojekt mit Theatertreffen zum Thema „NSU“ endete mit einem Anschlag auf einen Veranstaltungsort, rassistischen Diskriminierungen gegen unsere Partnerschulklasse aus Hamburg direkt beim Ankommen am Chemnitzer Bahnhof und damit, dass wir bei den Vorstellungen unseres Theaterstücks Beate Uwe Uwe Selfie Klick Security, sowohl im Saal, als auch vor dem Theater einplanen mussten.

Du meinst das mit dem Bertini-Preis für Zivilcourage ausgezeichnete Projekt Rosarot ist eine Mischfarbe mit Jugendlichen aus Chemnitz, Zwickau und Hamburg.

Wie hat das Theater auf diese Situation reagiert?

Das Theater Chemnitz hat solche Projekte gefördert und als Kooperationspartner mit veranstaltet, allerdings fehlte mir persönlich lange eine klare Positionierung, da viele den Rechtsextremismus der „besorgten Bürger“ noch nicht als solchen benennen wollten und daran glaubten, dass Dialog möglich ist.

Wann kippte diese Haltung?

Erst im September 2018 – als 8.000 angeblich trauernde Neonazis, Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker und weitere Rechtsextreme durch die Stadt marschierten, änderte sich das.

Nachdem Ende August 2018 am Rande eines Stadtfestes ein Mann niedergestochen wurde und starb, folgten Rechtsextreme aus dem gesamten Bundesgebiet dem Aufruf zum „Trauermarsch“ der Gruppierung Pro Chemnitz. Es kam zu Jagdszenen gegen migrantisch gelesene Personen und Gegendemonstrant*innen. „Der Abend, an dem der Rechtsstaat aufgab“, titelte Zeit Online. Der britische Guardian schrieb damals: „Das ist das Aufblühen von etwas Gefährlichem, das tief verwurzelt ist“. Die Ausschreitungen weckten Erinnerungen an die Pogrome in den frühen 1990er Jahren und lösten eine politische Debatte aus, in deren Verlauf Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde.

Ich erinnere mich an die hasserfüllten Gesichter, die überforderte Polizei, die uns auf dem Heimweg zuruft: „Geht nicht da lang, dort ist es nicht sicher“, an die zusammengeschlagenen linken Demonstranten und flüchtenden Menschen mit Migrationsvordergrund, die Angst und vor allem die Wut über Hans-Georg Maaßen und auch Michael Kretschmer, den Ministerpräsidenten Sachsens.

„Hier in Kiel, wo es so einfach ist, sich zu positionieren, ist es umso wichtiger, Gesicht zu zeigen!“

Seit 2022 bist du in Kiel. War das auch eine Entscheidung aus politischen Gründen?

Wir sind aus persönlichen Gründen nach Kiel gezogen. Es stimmt aber auch, dass wir diese sich verschärfende Situation in Chemnitz psychisch nicht mehr ertragen haben. Im Zuge der Pandemie ab 2020 erlebten die Montagsdemos eine neue Blüte und wurden von den Faschisten dafür genutzt, die Stadt unsicher und Hass salonfähig zu machen. Hier in Kiel, wo es so einfach ist, sich zu positionieren, da die Gefahr von Extremrechts bislang fern scheint, ist es umso wichtiger, Gesicht zu zeigen! Ich bin sehr glücklich, dass wir dies hier auch sehr direkt im Namen des Theaters machen dürfen. Es braucht manchmal eine Energie von außen, die motiviert – ich hoffe, diese Energie habe ich mitgebracht.

Mit den Veranstaltungen der Bühne für Demokratie setzt ihr am Theater Kiel Impulse für gesellschaftlichen Dialog. Wie kam dieses Format zustande?

In der vergangenen Spielzeit bekamen wir die Anfrage, ob wir eine Veranstaltung anlässlich „75 Jahre Grundgesetz“ im Opernhaus planen könnten. Die Organisation dafür habe ich gern übernommen, natürlich unterstützt durch viele Kolleginnen.

War von Anfang an klar, dass es ein regelmäßiges Format wird?

Nein. Aber nach großem Erfolg und Zuspruch kam der Wunsch bei vielen Mitarbeiter*innen auf, ein regelmäßiges Format zu etablieren. Die Organisation und Ideen kommen dabei von einer Gruppe engagierter Menschen aus unterschiedlichen Sparten und Abteilungen des Theaters.

Also eine Initiative aus dem Team heraus?

Genau. Wir sind eine Mitarbeitenden-Initiative mit Unterstützung durch die Theaterleitung. Wir handeln aber relativ unabhängig.

Welche Themen greift ihr auf?

Unser Ziel ist es, einmal im Monat eine Bühne für Demokratie zu veranstalten und dabei unterschiedlichste Themenschwerpunkte, die einen Bezug zum demokratischen Miteinander haben, zu behandeln. Auch das Format soll variieren. Wir gestalten zum Beispiel Diskussionsrunden, Lesungen, Spendenaktionen, Theaterinszenierungen oder eben eine Gedenkaktion, wie am 27. Januar.

Wie reagiert das Publikum auf die Bühne für Demokratie?

Die Resonanz des Publikums ist durchweg positiv. Bei den Formaten gibt es unterschiedliche Platzkapazitäten, bisher waren wir immer sehr gut besucht. Oft wurde uns gesagt, wie sehr sich die Besucherinnen über unser Format freuen. Außerdem haben wir durch die verschiedenen Themenschwerpunkte mittlerweile Kontakt zu vielen aktiven Menschen, Expert*innen, Vereinen und Initiativen in Kiel, was sehr bereichernd ist.

Theater erreicht Menschen auf unterschiedliche Weise – sei es über klassische Inszenierungen, partizipative Formate wie Jugendclubs und Bürgerbühnen, durch Angebote für Schulklassen – oder eben durch eine Bühne für Demokratie. Dennoch hält sich das Vorurteil, Theater sei ein Medium für eine kleine, privilegierte Gruppe. Woher kommt dieses Bild deiner Meinung nach?

Das Klischee hält sich meiner Meinung nach durch die geschlossene Architektur mancher Theater und die immer noch weit verbreiteten ungeschriebenen Benimmregeln im Theater. Außerdem die leider oft noch mangelnde Diversität auf der Bühne, sowohl was Darstellerinnen als auch Inhalte betrifft. Auch die Marketingstrategien werden nur langsam frischer, barrierearmer und niederschwelliger.

Wie können Theater dem entgegenwirken?

Meiner Meinung nach müssen Theater mehr persönlichen Kontakt zum Publikum herstellen und die Stadtbevölkerung beteiligen – sei es durch Partizipation, offene Formate, Umfragen, Spielorte im öffentlichen Raum, angemessene Preise und so weiter.

Gibt es da am Theater Kiel konkrete Ansätze?

Ja, am Theater Kiel passiert schon einiges, aber Luft nach oben ist immer. Leider hat das natürlich auch immer mit Geld zu tun – und das wiederum mit der Kulturpolitik von Stadt, Land und Bund.

Was habt ihr in der kommenden Zeit geplant? Mit welchen Formaten wollt ihr den gesellschaftlichen Dialog weiter begleiten?

In dieser Spielzeit haben wir noch einige Bühnen für Demokratie vor uns. Wir planen aber recht kurzfristig, zumindest für Theaterverhältnisse.

Gibt es schon konkrete Termine?

Ja, sicher. Es wird eine Lesung am 24. Februar geben, dem dritten Jahrestag des Beginns des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Im März kommt ein Dialogformat im Theater im Werftpark. Um den 8. Mai herum, den Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und des Endes des Zweiten Weltkrieges, kommt wahrscheinlich eine Stolperstein-Tour mit Schauspieler*innen, in Kooperation mit „Stolpersteine im Norden“.

Und wie sieht es mit der nächsten Spielzeit aus?

Auch da geht es weiter. Wir beteiligen uns auf jeden Fall an der „Langen Nacht für Demokratie“ und am Rahmenprogramm der „Anne-Frank-Ausstellung“. Was sonst noch kommt, hängt natürlich auch von der gesellschaftlichen Lage ab.

Liebe Denise, vielen Dank für das Gespräch.

Außerdem lesenswert:

Aus dem Guardian (2018):

https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/oct/31/neo-nazi-eastern-chemnitz-germany-saxony?source=techstories.org

Aus der Kulturzeitschrift Schleswig-Holstein (Ausgabe Winter 2021):

30 Jahre Wende, Einheit, Wiedervereinigung. 30 Jahre Neonazis aus Ostdeutschland? Johannes Warda im Gespräch mit Mitarbeitenden der LOBBI (Landesweite Opferberatung, Beistand und Information für Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern)

Brennende Republik Deutschland. Zum 25. Jahrestag erinnert Kristof Warda an den Lübecker Brandanschlag vom Januar 1996 und an die Geschichte rassistischer Gewalt in der alten und neuen Bundesrepublik.

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