Zehn Minuten auf X, ehemals Twitter, reichen: Da wird aggressiv geschimpft, gerne derbe unter die Gürtellinie geschlagen. Es werden, kaum Argumente ausgetauscht. Vor allem wird nicht mehr darauf gehört, welche Meinungen Andersdenkende haben. Jetzt kann man sagen, okay, das sind die sozialen Netzwerke. Da kann man nichts anderes erwarten. Mit 280 Zeichen kann man halt nur zuspitzen. Oder – wie ich es bei einer Influencerin auf Instagram gelesen habe – nur mit Empörung kann man Aufmerksamkeit generieren.
Na herzlichen Glückwunsch! Wohin ist unsere Gesellschaft gelangt, die nur mit Empörung Zustimmung gewinnen kann? Wie gesagt, das sind die sozialen Nerzwerke. Sieht das im Alltag besser aus? Gibt es noch die Bereitschaft, einander zuzuhören oder sich kontrovers, aber durchaus respektvoll, auszutauschen? Linke und Konservative? Junge und Alte? Benachteiligte und Verwöhnte? Cheffinnen und Arbeitnehmer? Neo-Ökologisches und Nostalgisch bürgerliches Milieu?
Es scheint so, dass vernünftige Umgangsformen in der Gesellschaft verloren gegangen sind. In einem Buch des Journalisten Kersten Knipp über die historische Entwicklung der Eleganz, des guten Benehmens, der gewählten Aussprache und der gesitteten Kontroverse habe ich so viele Empfehlungen gefunden, die man heute angesichts der Aggressivität in den sozialen Netzwerken so manchem hinter die Ohren oder noch besser vor die Augen schreiben müsste. Zum Beispiel diese hier: „…andere angemessen zu empfangen, die Personen zu begrüßen, ihnen ihre Ehre zukommen zu lassen, sie zu respektieren, auf sie zuzugehen, sie durch Zeichen und wohlwollende Signale anzusprechen, sie unserer Höflichkeit und unseres Wohlwollens zu versichern; ihnen mit Gesten und freundlichem Umgang ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln, so dass sie mit uns ins Gespräch kommen.“ Dieser Satz stammt von Eustache de Refuge, Höfling und Autor im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Könnte man heute wieder so plakatieren.
Jürgen Kaube von der Frankfurter allgemeinen Zeitung und der Soziologe André Kieserling sind in einem Essay zu dem Schluss gekommen, dass die Gesellschaft nicht so weit auseinanderdriftet, dass breite und gewalttätige Proteste drohen. Doch die Gräben sind tief, die Konflikte auch. Das gehöre zu einer offenen und demokratischen Gesellschaft, könnte man nun den Autoren entgegenhalten. Doch sollte man hinzufügen, dass es ebenso zu einer offenen Gesellschaft gehört, dass es Räume gibt, in denen Konflikte thematisiert und Argumente ausgetauscht werden können. Eine funktionierende Demokratie lebt von der aktiven Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger.
Der Austausch von Meinungen, Ideen und Erfahrungen ist dabei von zentraler Bedeutung, um ein gemeinsames Verständnis und breite gesellschaftliche Zustimmung für politische Entscheidungen zu schaffen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Menschen sich regelmäßig treffen und zusammenkommen, um in Kontakt zu treten und Diskussionen zu führen. In diesem Zusammenhang spielen sogenannte „Dritte Orte“ eine wichtige Rolle. Gemeint sind damit Orte wie Cafés, Bibliotheken, Parks oder andere öffentliche Räume, die von den Menschen frei genutzt werden können und nicht primär auf wirtschaftlichen Erfolg oder eine bestimmte Aktivität wie Arbeit oder Bildung ausgerichtet sind. Sie bieten einen Raum für Begegnungen und Austausch, unabhängig von sozialer oder beruflicher Zugehörigkeit.
Ursprünglich gedacht, um jenseits der privaten Wohnung oder des Arbeitsplatzes das gesellige Zusammensein zu ermöglichen, könnten Dritte Orte heute – und mehr noch in der Zukunft – eine wichtige Rolle in unserem Zusammenleben spielen. Dritte Orte können ein unverzichtbarer Beitrag für eine demokratische Gesellschaft werden. Sie fördern den öffentlichen Diskurs und den Dialog zwischen verschiedenen Gruppen und Meinungen. Indem sie die Begegnung und Vernetzung der Menschen erleichtern, tragen sie zur Bildung eines Gemeinwesens bei, das auf Solidarität, Toleranz und Respekt aufbaut.
Die ursprüngliche Idee hat der vor kurzem verstorbene amerikanische Soziologe Ray Oldenbourg entwickelt. Ihm ging es um Biergärten, Kneipen und Cafés. Diese Treffpunkte sollten zweckfrei sein, damit sich niemand, der dort hinkommt, unter Druck fühlt. Aber ich glaube, wir können das Konzept durchaus weiterentwickeln. Für unsere Öffentlichkeit wäre es wichtig, Orte zum Kennenlernen, zum reden und vor allem zum Zuhören zu gestalten. Uns fehlen Maß und Mitte. Um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, braucht es dafür notwendige analoge Plattformen. Die Entwicklung Dritter Orte kann also einen wesentlichen Beitrag leisten, Konflikte und Kontroversen aufs Tapet zu bringen. Raus aus der Anonymität der sozialen Netzwerke. Wer einem Mitmenschen ins Gesicht blickt, wird nicht einfach laut, sondern gibt sich vielleicht Mühe, Argumente zu verstehen. Man muss nicht alles akzeptieren, aber zuhören, das sollte schon möglich sein.
Nicht zuletzt können Dritte Orte auch eine wichtige Rolle bei der Förderung von gesellschaftlicher Integration und Inklusion spielen. Indem sie einen Raum für Menschen schaffen, die sich ansonsten möglicherweise nicht begegnen würden, können sie zur Überwindung von sozialen, kulturellen oder ethnischen Barrieren beitragen.
Leider sind Dritte Orte heute oft bedroht. Der zunehmende Druck zur kommerziellen Nutzung von öffentlichem Raum und die Schließung von Gemeindezentren, Bibliotheken oder Volkshochschulen als Folge von Sparmaßnahmen sind nur einige Beispiele dafür. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns nicht nur für den Erhalt von Kulturinstitutionen, an denen Menschen zusammenkommen, einsetzen, sondern sogar den Ausbau zu Dritten Orten angehen.
Den Rahmen gibt es, das ist die nämlich die Vielfalt unserer Kulturellen Infrastruktur. Bibliotheken, Volkshochschulen und Soziokulturelle Zentren zuvörderst. Mit Dritten Orten sorgen wir für eine vielfältige, offene und inklusive Gesellschaft, die auf gegenseitigem Respekt und Verständnis aufbaut. Die zehn Minuten auf X können wir uns dann sparen. Die meisten Posts auch.