Nach dem erfolgreichen Auftakt ihres Programms mit der zypriotischen Künstlerin Maria Toumazou präsentiert Paula Kommoss, die neue Direktorin der Overbeck-Gesellschaft in Lübeck, mit „Capacity“ nun ihre zweite Ausstellung. Und zugleich die erste institutionelle Einzelausstellung der dänischen Künstlerin Asta Lynge (geb. 1988) in Deutschland. Schon beim Eintreten in den Pavillon beginnt sich der Blick auf das Vertraute zu verschieben.
Der Pavillon als Denkraum
Gleich im Foyer fällt eine lange Konstruktion aus hellem, unbehandeltem Holz ins Auge. Unüblich platziert, gleichsam mitten im Weg ragt sie aus dem Eingang zum Ausstellungsraum heraus und lädt ein, ihr zu folgen. Auffallend ist die gleichmäßige repetitive, skelettartige Struktur dieses hölzernen Gerüsts, die sich raumeinnehmend in einer eckigen U-Form durch den gesamten Pavillon erstreckt. Sie ist an den Grundriss der modernen Ausstellungsarchitektur angepasst und bildet das zentrale Werk der Schau: „Audience. Hier im lichtdurchfluteten Pavillon, dessen warmtöniger Fischgrätparkettboden und die vielen Fenster eine fast wohnliche Atmosphäre erzeugen, steht die ortsbezogene Rauminstallationin einem spannungsvollen Kontrast zur Umgebung. Zugleich weist sie den Weg durch die Ausstellung: Wer alle Arbeiten sehen möchte, muss einmal komplett um sie herumgehen.
Das entzauberte Sofa
Die Installation wirkt wie eine überdimensionale, langgezogene, flache Bank – ein Sofa für etwa 50 Personen. Doch es fehlt an Sitzpolstern. An einem Ende, wo Schaumstoff mit ausgestanzten Löchern die Lehne andeutet, erinnert die Form explizit an ein Chesterfield-Sofa. Im 18. Jahrhundert in England mit seinen nach außen gerollten Armlehnen und der hohen Rückenlehne für einen aufrechten und doch bequemen Sitz entworfen – galt und gilt das Chesterfield-Sofa als Symbol für Macht, Eleganz, Qualität und Stabilität. Doch hier – ohne Sitzfunktion, ohne seine luxuriöse, tief geknöpfte Lederpolsterung? Es ist entfunktionalisiert, in seinem Kern bloßgelegt. Lynge dekonstruiert das symbolisch aufgeladene Design-Möbelstück, um die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Erwartungen an Macht, Status und Effizienz in Frage zu stellen. Sie nimmt einen Gebrauchsgegenstand, der für Dauerhaftigkeit und Repräsentation steht, zeigt seine Fragilität und die Prozesse, die ihn überhaupt erst zu diesem Symbol aufwerten – im „Schwebezustand“, so Paula Kommoss, „weder vollständig realisiert noch vollständig demontiert“.
Stumme Gitarre, stille Kritik

Von „Audience“ führt der Blick zu einer weiteren Arbeit, „00010“ (2024). Ein Gitarrenkorpus, radikal aller Einzelteile entledigt und damit seiner ursprünglichen Funktion beraubt. Die Idee der Demontage, die sich schon im „Chesterfield-Sofa“ ankündigte, wird hier fortgeführt und auf die Spitze getrieben.
Dieser Korpus stammt von einer in den 1960er-Jahren erfundenen Doppelhals-E-Gitarre. Sie hatte ursprünglich einen 12-saitigen und einen 6-saitigen Hals und wurde von Musikergrößen wie Stephen Stills, Jimmy Page und Don Felder gespielt, um ihre musikalische Performance zu steigern, ihre technischen und musikalischen Kapazitäten auf der Bühne zu optimieren und letztlich ihre Selbstdarstellung zu perfektionieren. Was zuvor ein Werkzeug für virtuose Darbietung und als Symbol maximaler musikalischer Beherrschung galt, ist nun durch die Künstlerin transformiert. Der weiße Korpus ist mit einem feinen, quadratischen Muster versehen, das mittels Lasergravur aufgebracht wurde. Ein visuelles Detail, das die einst so klangvolle Oberfläche in eine neue, stumme Textur verwandelt. „00010“ ist eine tiefgründige Reflexion über die Optimierung unserer selbst und das unaufhörliche Streben nach Steigerung der eigenen Kapazitäten. Lynge seziert nicht nur das Objekt, sondern auch die dahinterstehenden menschlichen Ambitionen – eine stille, doch eindringliche Untersuchung unserer Beziehung zu Perfektion und Leistung.
Tagesreste in Sepia
Asta Lynge, die in Kopenhagen lebende Künstlerin beschränkt sich nicht auf ein Medium oder Material, sondern arbeitet assoziativ: „Day residue“, ein mit Tintenfischtinte geschriebener Text auf DIN-4 Papier, erzählt von ihrem skurrilen Traum, in dem sie elektrische Zahnbürsten verspeist. In Anlehnung an Sigmund Freuds Begriff der ‚Tagesreste‘ erkundet die Arbeit die fließenden Grenzen zwischen Realität und Traum, Sichtbarem und Unsichtbarem, Bewusstem und Unbewusstem. Und die dazugehörige, mit Tintenfischtinte befüllte Druckerpatrone, die hierfür aufgebrochen, neu befüllt und wieder zugeklebt werden musste, ist ebenso an der Wand montiert zu sehen.

Weiter führt der Weg um das lange ‚Publikums-Sofa‘ herum, an vier Leuchtstoffröhren entlang. Sie zeigen eine Reihe von Röntgenbildern: Perlen, von Fingern gehalten, lose arrangiert oder zu Ketten zusammengefügt. Die faszinierenden Naturprodukte entstehen, sobald ein Fremdkörper in die Muscheln eindringt. Sie sind ein Verteidigungsmechanismus gegen einen Eindringling oder Reizstoff und als Schutzreaktion wird dieser Schicht für Schicht mit Perlmutt umhüllt. Perlen werden seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Massenware gezüchtet, als “Zuchtperle” in unterschiedlichen Qualitäten – als „kontrolliertes Produkt, das durch ein gezieltes menschliches Eingreifen entsteht, geplant und reproduzierbar ist“, so erklärt Paula Komoss. Die Röntgenbilder offenbaren das Innere der Perlen und zeigen, die unterschiedlich großen und von Menschenhand eingesetzten Nuklei, die von oft nur hauchdünnen Perlmuttschichten umhüllt sind. Asta Lynges Röntgenbilderreihe macht die dahinterstehende Industrie und die oft brutalen Verfahren sichtbar, die der Öffentlichkeit kaum bekannt sind. Es geht um Offenlegung, um Sichtbarmachen des Unsichtbaren. Auf den Röntgenperlen sind im Vergleich zur ‚echten‘ Perle auch Plastikperlen zu erkennen, die gar keinen inneren Kern haben.
Von hier aus führt der Weg zurück, noch einmal vorbei an all den Arbeiten von Asta Lynge, die zusammen ein Gefüge bilden – ein Geflecht des Sichtbarmachens von Strukturen, den Industrien dahinter, die unseren Optimierungswahn und unsere materiellen Erwartungen antreiben. Asta Lynges Arbeiten wirken subtil entgegen. Sie laden uns ein, uns auf den Raum, auf ihre Kapazität als Kunstobjekte und auf ihre Präsenz einzulassen, die den Raum der Overbeck-Gesellschaft auf einzigartige Weise zum Wirken bringt. Eine spannende Zusammenstellung, in der Lynge nicht nur die Objekte selbst hinterfragt, sondern auch die impliziten Erzählungen von Fortschritt, Komfort und Effizienz, die unserer modernen Existenz zugrunde liegen. Statt fertiger Produkte zeigt Lynge Prozesse ein Spannungsfeld zwischen Herstellung und Demontage, in dem sich eine stille Kritik an Wachstumslogiken und der Idee von Effizienz entfaltet.
Die Ausstellung ist noch bis zum 29. Juni 2025 im Overbeck-Pavillon in Lübeck zu sehen und am 22. Juni findet der Kinderworkshop „Build your sofa“ statt.
Öffnungszeiten: Donnerstag – Sonntag, 12 – 17 Uhr.