In Zeiten sozialer Spaltung, ökonomischer Unsicherheit und kultureller Umbrüche stellt sich drängend die Frage, worauf Gemeinschaft heute noch fußt. Die Gruppenausstellung „Die Kraft schwacher Bande“ im Kieler Off-Space in der Schloßstraße 18 nähert sich dieser Frage aus künstlerischer Perspektive und zeigt, wie lose Verbindungen, zarte Beziehungen und individuelle Narrative neue Formen von Verbundenheit schaffen können.
Die Ausstellung ist Teil des Projekts Futur3. – Wochen für Kunst und Diskurs, das bis zum 31. Juli 2025 in Räumlichkeiten in Kiel stattfindet. Begleitend zur Ausstellung finden Workshops, Performances und partizipative Veranstaltungen statt, die den Austausch zwischen Künstler:innen, Kurator:innen und Publikum fördern. Besonders wichtig dabei: Die Veranstaltungen sind niederschwellig und gemeinschaftsorientiert, um die Kraft der flüchtigen Bekanntschaften aufzuzeigen.

Wo sich Linien kreuzen
Futur3. – Wochen für Kunst und Diskurs hat seit 2017 einen festen Platz in der Kieler Kunst- und Kulturszene. Die Initiative versteht sich als Plattform für junge, zeitgenössische Kunst und wurde vom Netzwerk für revolutionäre Ungeduld (NfrU) e.V. ins Leben gerufen.
Nach einer einjährigen Konzeptionsphase entstand die diesjährige Ausgabe unter dem Titel „Die Kraft schwacher Bande“. Das Projekt verfolgt das Ziel, insbesondere jungen Künstler:innen den Einstieg ins professionelle Kunstfeld zu erleichtern. Dies soll durch Sichtbarkeit, Austausch und eine solidarisch gedachte Community entstehen.
Die Projektleitung liegt bei Mia Fyu, kuratorisch verantwortet wurde die Ausstellung von Mateusz Dworczyk, der auch über die theoretischen und praktischen Hintergründe der Konzeption berichte. Stellvertretend für das gesamte Team führen die beiden durch die Ausstellung und berichten über Gedanken, Hintergründe und Interaktionen der Werke.
Eine These aus der Soziologie – übersetzt in Kunst
Ausgangspunkt der kuratorischen Überlegungen ist eine soziologische Theorie: Schwache soziale Bande, erklärt Kurator Dworczyk, sind flüchtige Bekanntschaften, punktuelle Begegnungen oder beiläufige Netzwerke. Gerade in ihrer Unverbindlichkeit können sie, so die These, stabilisierender und ressourcenschaffender wirken als enge familiäre Strukturen. Eine theoretische Grundlage liefert der Soziologe Mark S. Granovetter, der in seinem einflussreichen Aufsatz „The Strength of Weak Ties“ (1973) argumentiert: Während klassische Netzwerktheorien vor allem starke, enge Bindungen innerhalb kleiner, homogener Gruppen betrachten, sind es oft gerade die schwachen Verbindungen, die Menschen über soziale Grenzen hinweg verknüpfen. Sie wirken wie Brücken zwischen unterschiedlichen Milieus und ermöglichen so neue Perspektiven auf Gesellschaft, Austausch und Zugehörigkeit. Im Ausstellungskontext wird dieser Gedanke auf persönliche, politische und ästhetische Weise aufgeschlüsselt. Dabei fließen queer-feministische Diskurse ebenso ein wie Fragen nach Fürsorge, Widerstandskraft und radikaler Self-Care.

Wo schwache Bande sichtbar werden
Präsentiert werden die Arbeiten im Kieler Off-Space, ein zuvor ungenutzter Werkstattraum, der eigens für die Ausstellung umgebaut wurde. Für die Kurator:innen ist das Erschließen neuer Räume keine Notlösung, sondern eine Qualität der Ausstellung: Orte mit Geschichte und Kanten eröffnen neue Perspektiven und schaffen einen niedrigschwelligen Zugang zur Kunst, so Dworczyk.
Fyu weist darauf hin, dass viel Arbeit in der Transformation des Raumes steckt, knapp zwei Monate lang wurden Wände, Boden und Decken bearbeitet, um eine geeignete Ausstellungsfläche zu schaffen. Wichtig war dem Team, eine offene Raumstruktur zu erhalten: keine strikt voneinander getrennten Werkpräsentationen, sondern Sichtachsen, Durchlässigkeit und Übergänge. Auch auf räumlicher Ebene sollen sich lose Verbindungen bilden können, ganz im Sinne des Ausstellungsthemas.

Sechs Positionen, ein Thema
Gezeigt werden Arbeiten von sechs Künstler:innen aus Deutschland und der Schweiz. Franca Behrmann, Alime Ertürk, Laura Nan, Max Prange, Aura Roig und Xiaoyi Zhan. Sie alle nähern sich dem Ausstellungsthema aus sehr unterschiedlichen Perspektiven: biografisch, experimentell und persönlich, trotzdem bleiben alle Themen gesellschaftlich relevant.
Max Pranges Soundinstallation „Le Stade du Miroir“ führt Besucher:innen an einen ungewöhnlichen Ort des Zuhörens: einen brunnenartigen Aufbau, der sie in intime Gespräche über die Einsamkeit queerer Männer und das damit verbundene Schamgefühl eintauchen lässt. Die Installation basiert auf Interviews, die Prange zu diesem Thema geführt hat. Was von außen robust und stabil wirkt, entpuppt sich beim Hineinhören als schützender Raum für etwas Zerbrechliches:
„Ich möchte ein Gefühl ergründen“, erklärt Prange.
Durch diesen Akt des gemeinsamen Zuhörens gelingt es Prange, eine temporäre Gemeinschaft zu schaffen, einen Moment der Verbindung zwischen den Erfahrungen der Interviewten und denen der Zuhörer.

Xiaoyi Zhan entwirft in ihrer Arbeit einen „kollektiven Schrei“ aus Fragmenten von Frauenmündern aus Horrorfilmen, die sie mit Duftwachs überzogen hat. Was zunächst als eingefangener Moment der Angst erscheint, wandelt sich in der Gesamtheit der Bilder zu etwas anderem: Wut und Aggressivität gehen von dieser Sammlung aus. Auch hier fügt sich die Vielzahl der Einzelwerke zu einer unerwarteten Gemeinschaft zusammen. Eine solche Verbindung würde man in der Ansammlung schreiender Münder zunächst nicht erwarten. Die Angst wird zur Waffe umgedeutet, der individuelle Schrecken zu kollektiver Macht.
Fragilität als Widerstand
Was zunächst wie ein Widerspruch klingt, entpuppt sich im Verlauf der Ausstellung als politische These: Fragilität, Verletzlichkeit und Unschärfe sind keine Schwächen, sondern produktive Ausgangspunkte für neue Formen von Gemeinschaft. Die beteiligten Künstler:innen zeigen, dass sich aus der Erfahrung des Zerbrechlichen eine neue Sprache entwickeln lässt: von Nähe, Solidarität und Selbstbehauptung. Leise, zart, aber kraftvoll.

Besucher:innen können die Ausstellung noch bis zum 31. Juli 2025 kostenfrei im Off-Space, Schloßstraße 18, in Kiel besuchen.
Öffnungszeiten: Do./Fr. 15:00-19:00 Uhr
Sa./So. 12:00- 18:00 Uhr
Mehr Informationen zu der Ausstellung.
