Schorsch Kamerun: Punk werden wo andere Urlaub machen

Teilen

Schorsch Kamerun – mit bürgerlichem Namen Thomas Sehl – wuchs in Timmendorfer Strand und in Reinbek auf. Die Schule verließ er ohne Abschluss, nachdem der Schuldirektor ihm ans Herz legte, nach den Sommerferien bitte nicht wiederzukommen. Im Autohaus seines Stiefvaters machte er eine Lehre als Kfz-Mechaniker. Seine Berufung fand er jedoch im Kulturschaffen: Schorsch Kamerun ist Musiker, Clubbetreiber, Autor und Theatermacher.

Am Theater Lübeck inszenierte Kamerun nun erstmals ganz in der Nähe der Schauplätze seiner Jugend. Mit „Cap Arcona“ lieferte er einen autobiografisch gefärbten, vom Publikum begeistert aufgenommenen Abend ab. Die Katastrophe um die Versenkung der Cap Arcona im Mai 1945 in der Lübecker Bucht steht dabei für die kollektive Verdrängung der jüngeren Geschichte in einer fatalen Mischung aus Schuld und Trauma, die sich in autoritären bürgerlichen Normen und Ängsten der bundesrepublikanischen Gesellschaft Bahn bricht. Beim Versuch, daraus auszubrechen, stoßen Kameruns Bühnen-Alter-Ego Stefanie aka Feuersalamander und ihre Clique auf Gegenwehr.

Wir benötigen Ihre Zustimmung um den Inhalt von YouTube laden zu können.

Mit dem Klick auf das Video werden durch den mit uns gemeinsam Verantwortlichen Youtube [Google Ireland Limited, Irland] das Video abgespielt, auf Ihrem Endgerät Skripte geladen, Cookies gespeichert und personenbezogene Daten erfasst. Damit kann Google Aktivitäten im Internet verfolgen und Werbung zielgruppengerecht ausspielen. Es erfolgt eine Datenübermittlung in die USA, diese verfügt über keinen EU-konformen Datenschutz. Weitere Informationen finden Sie hier.

Jmx0O2lmcmFtZSB0aXRsZT0mcXVvdDtUaGVhdGVyIEwmdXVtbDtiZWNrICZyYXF1bztDYXAgQXJjb25hJmxhcXVvOyZxdW90OyB3aWR0aD0mcXVvdDs2OTYmcXVvdDsgaGVpZ2h0PSZxdW90OzM5MiZxdW90OyBzcmM9JnF1b3Q7aHR0cHM6Ly93d3cueW91dHViZS5jb20vZW1iZWQvTFNOTFV5QjBSMEU/ZmVhdHVyZT1vZW1iZWQmcXVvdDsgZnJhbWVib3JkZXI9JnF1b3Q7MCZxdW90OyBhbGxvdz0mcXVvdDthY2NlbGVyb21ldGVyOyBhdXRvcGxheTsgY2xpcGJvYXJkLXdyaXRlOyBlbmNyeXB0ZWQtbWVkaWE7IGd5cm9zY29wZTsgcGljdHVyZS1pbi1waWN0dXJlOyB3ZWItc2hhcmUmcXVvdDsgcmVmZXJyZXJwb2xpY3k9JnF1b3Q7c3RyaWN0LW9yaWdpbi13aGVuLWNyb3NzLW9yaWdpbiZxdW90OyBhbGxvd2Z1bGxzY3JlZW4mZ3Q7Jmx0Oy9pZnJhbWUmZ3Q7

„Ist vielleicht gar nicht schlecht, dass du das Stück noch nicht gesehen hast, wenn wir uns treffen“, hatte Schorsch Kamerun am Telefon gesagt. „So schlimm?“, hatte ich gefragt. „Keine Ahnung. Das weiß man vorher nie. Aber unserem Gespräch tut das vielleicht gut.“ Wir werden sehen. Als wir uns treffen, sind es noch zwei Tage bis zur Premiere. Wir sitzen im Theater Lübeck zusammen und haben eine gute Stunde – dann ist wieder Probe.

„Warum wird man Punk, wenn man aufwächst, wo andere Urlaub machen?“ frage ich. Schorsch Kamerun überlegt einen Augenblick, bevor er antwortet. „Für mich hat das eine gewisse Folgerichtigkeit. In Timmendorfer Strand habe ich während meiner Jugend eine Enge gespürt, von der ich glaube, dass sie besonders ausgeprägt in solchen Urlaubs- und Badeorten ist“, sagt er dann. „Urlauberinnen und Urlauber wünschen sich ja eine gewisse Wohlfühl-Atmosphäre für ihren Aufenthalt. Dazu gehören Beschaulichkeit, Ruhe und Ungestörtheit, aber auch Sauberkeit und Ordnung. Das macht die Orte des sogenannten Fremdenverkehrs künstlich.“

Wettrüsten an den Küsten

Die alltägliche Verdrängung der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft schien sich im inländischen Urlaubsort also noch einmal zu potenzieren. Während sich die Bundesrepublik mit ihren eskapistischen Schlagern kollektiv in den Süden träumte, fand sich ein Großteil der Urlaubswilligen aus Kosten-, Bequemlichkeits- oder Sprachgründen am Ende doch an Nord- und Ostsee wieder – und somit auch an offenbar umso penibler gesäuberten Täter- und Tatorten.

An den Küsten schossen in den 1960er und 1970er Jahren die Hotels und Ferienzentren wie Pilze aus dem Boden, die „Orte des sogenannten Fremdenverkehrs“ erfuhren einen grundlegenden Strukturwandel. Die Übernachtungskapazitäten stiegen dramatisch. So auch in Timmendorfer Strand. Mit Hilfe von „Zonenrandförderung“ eröffnete Hans-Joachim Gomolla, Maschinenfabrikant aus Bad Salzuflen, hier 1969 das erste Maritim Hotel und legte so den Grundstein der bekannten Hotelkette. Die „Nobelherberge“ hatte 500 Betten und zog die „Geldprominenz“ an, konstatierte das Magazin Der Spiegel 1971. Freddy Quinn und Hans-Dietrich Genscher gehörten zu den prominenten Gästen der ersten Stunde. Das dem Hotel angegliederte Kongresszentrum sei dabei von der Gemeinde bezahlt worden, was dem Unternehmer rund achteinhalb Millionen Mark Kosten sparte, heißt es weiter. Und: „Der Maritim-Boß, der seinen Gästen pro Tag Pensionspreise zwischen 58,50 und 116 Mark abknöpft, hat inzwischen erkannt, daß sich in der deutschen Hotellerie `Luxus am besten verkauft´.“

Timmendorfer Strand. Maritim Seehotel (Baujahr 1969) und Maritim Clubhotel (Baujahr 1974, rechts). Foto: User:Bin im Garten – Wikimedia Commons

In der Lübecker Bucht offenbar besonders gut. 1974 eröffneten das Maritim Hotel in Travemünde und der zweite Maritim-Hotelkomplex in Timmendorfer Strand. Mit 119 und 101 Metern Höhe die beiden bis heute höchsten Hochhäuser Schleswig-Holsteins. Das bereits 1972 fertiggestellte Maritim-Hochhaus in der ehemaligen „Reichskriegshafenstadt“ Kiel hingegen fiel nicht so hoch aus. Dennoch – wer aus den oberen Etagen fördeseitig nach rechts blickte, sah noch bis in die 1990er Jahre hinein die Trümmer des U-Boot-Bunkers Kilian aus dem Wasser ragen. In Timmendorfer Strand bedurfte es gar nicht des atemberaubenden Blickes aus luftiger Höhe über die Lübecker Bucht. Auch vom Strandkorb aus wäre die Stelle, an der vor Neustadt in Holstein im nördlichen Teil der Bucht die Cap Arcona sank, gut sichtbar gewesen. Doch wer schaute schon so genau hin. Man war ja im Urlaub. Mit den Jahren wurden auch die angespülten Menschenknochen weniger, sodass es sich schließlich wieder friedlich planschen ließ.

Schaffen, Ackern, Leistung

Größter Störfaktor nun Kamerun und Seinesgleichen. In kaputten Klamotten hingen sie an der Promenade ab, die vor der Saison geweißten Wände dienten ihnen als Leinwand für irritierende Botschaften, eine am Strand ausgehobene Grube mit Quallen gefüllt als „Touristenfalle“. „Wir konnten echt richtig nerven,“ lacht Kamerun. Und mehr kontextualisierend als entschuldigend fügt er hinzu: „Das resultierte aus der Enge, aus der autoritären Umgebung. Und autoritär meine ich ganz universell: Nicht den Rasen betreten, bitte nicht am Platz stören, bitte nicht ins Café gehen. Das mag im Badeort Timmendorfer Strand extrem gewesen sein, aber das galt auch im Rest der Republik. Die Atmosphäre, die unsere Elterngeneration, die Generation des Wirtschaftswachstums, geschaffen hat, war eine Atmosphäre der Enge. Da ging es um nichts anderes als Schaffen, Ackern, Leistung. Für Kinder war da wenig Platz. `Irgendwie seid ihr halt mitgelaufen`, so beschreibt das meine Mutter heute. Im Nachhinein kann ich das verstehen. Das hatte mit den Erfahrungen ihrer Generation zu tun. Viele haben als Kind Hunger und Entbehrung in den letzten Kriegsjahren und in der Nachkriegszeit erlebt. Krieg, Hunger. Das lässt wenig Platz für Kindheit. Die hatten viel mit sich selbst zu tun, ihr Trauma hat sie begleitet und das haben sie schließlich an uns weitergegeben.“

Punk als Reaktion ergab total Sinn.

Schorsch Kamerun

Auch die Schule bot keinen Ausweg. Lehrer mit NS-Vergangenheit, ein Schulsystem, das das Gefühl der Enge noch verstärkte: „Im Unterricht ging es vor allem darum, nicht zu stören. Sonst flog schon mal der Schlüsselbund. Es ging um Ordnung, und um Sauberkeit. Ein Lehrer hat mit uns geübt, wie man sich hinsetzt, ohne die Bügelfalte an der Hose zu zerstören.“ Und der Sportverein lehrte bloß dieselben „Tugenden“. Also ab an den Strand, Quallenfallen bauen.

Kein guter Vorschlag

„Ich war ein klassisches Zündelkind“, sagt Schorsch Kamerun. „Heute würde man vielleicht Systemsprenger dazu sagen. Das hat über das Geschilderte hinaus auch mit meiner persönlichen Biografie, mit meinem Elternhaus zu tun. Bei den anderen waren es vielleicht ähnliche persönliche Umstände, vielleicht andere. Die Verhältnisse jedenfalls haben es uns notwendig gemacht, herauszukommen, um nicht darin unterzugehen. Und ein Weg war, laut zu werden. Punk als Reaktion ergab total Sinn.“

Schorsch Kamerun bei seinem ersten Auftritt in Lübeck, um 1980. Foto: Privat

Unter den Jugendlichen im mondänen Badeort an der Ostseeküste bildete sich schon früh eine große Gruppe Auffälliger, die den Punk für sich entdeckten: Hier sei die Enge vermutlich stärker spürbar gewesen, der Leidensdruck höher als in urbanen Kontexten, die etwas mehr Anderssein zuließen. In Lübeck oder Kiel gab es Ende der 1970er Jahre nicht mehr Punks als in Timmendorfer Strand, schätzt Kamerun. „Wir wollten dieser vielfachen Enge entkommen. Das erklärt auch, warum wir uns neue Namen gegeben haben: Wir wollten eben nicht das sein, was vorgesehen war. Die Umgebung hatte für uns schließlich eine Zukunft vorgesehen, die hieß Schule, Ausbildung, Arbeit, Tod. Das fanden wir keinen guten Vorschlag. Und das sehe ich auch heute noch so.“

Unterstützen Sie kulturkanal.sh
– für eine lebendige Kulturszene

Vielen Dank, dass Sie kulturkanal.sh nutzen. Unser Online-Feuilleton für Schleswig-Holstein bringt Ihnen spannende Inhalte und aktuelle Berichte über das vielfältige kulturelle Leben in unserer Region.

Um weiterhin unabhängige und hochwertige Inhalte anbieten zu können, brauchen wir Ihre Unterstützung.

Mit einer freiwilligen Zahlung helfen Sie uns, durch unsere Berichterstattung die Kultur vor Ort zu fördern.

Jeder Beitrag zählt – machen Sie mit und stärken Sie die regionale Kultur!

Themen

Teilen

Das könnte Sie auch interessieren

Meistgelesen

Neueste Artikel

Datenschutz
Kulturkanal.sh GbR, Inhaber: Birthe Dierks, Esther Geißlinger, Pauline Reinhardt, Bernhard Martin Schweiger, Gerd-Richard Warda, Kristof Michael Warda (Firmensitz: Deutschland), würde gerne mit externen Diensten personenbezogene Daten verarbeiten. Dies ist für die Nutzung der Website nicht notwendig, ermöglicht aber eine noch engere Interaktion mit Ihnen. Falls gewünscht, treffen Sie bitte eine Auswahl:
Datenschutz
Kulturkanal.sh GbR, Inhaber: Birthe Dierks, Esther Geißlinger, Pauline Reinhardt, Bernhard Martin Schweiger, Gerd-Richard Warda, Kristof Michael Warda (Firmensitz: Deutschland), würde gerne mit externen Diensten personenbezogene Daten verarbeiten. Dies ist für die Nutzung der Website nicht notwendig, ermöglicht aber eine noch engere Interaktion mit Ihnen. Falls gewünscht, treffen Sie bitte eine Auswahl: