Wie sollten Gedenkstätten und die Erinnerungskultur in einer diversen Gesellschaft aussehen? Martin Link vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein und Heino Schomaker, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte, wünschen sich ein „plurales Erinnern“.

Herr Link, Herr Schomaker, Sie kritisieren, dass die Erinnerungskultur in Deutschland und auch in Schleswig-Holstein zu wenig divers ist. Wie sieht es denn heute aus in den Gedenkstätten des Landes?
Martin Link: Das sind sehr teutonisch geprägte Orte, orientiert an der deutschsprachige Zielgruppe. Fremdsprachige Beschilderungen in den Opfersprachen und in den Sprachen migrantischer Communities fehlen oft. Damit bilden sich auch die Erfahrungen aus anderen Ländern kaum in den Gedenkstätten ab. Das sollte sich im Zuge einer einwanderungsgesellschaftlichen Erinnerungsarbeit ändern, schließlich reicht die Geschichte des Faschismus über Europa hinaus. Wir müssen die Gedenkstätten für Eingewanderte zunächst einmal identifizierbar machen.
Heino Schomaker: Ich stimme zu. Die Art und Weise, wie in Deutschland Erinnerungskultur praktiziert wird, ist immer noch ein sehr abgeschlossenes Projekt deutscher Akteur*innen, mit einem begrenzten nationalen Fokus auf die NS-Zeit. Natürlich hat das nach wie vor eine zentrale Bedeutung, aber eine Einwanderungsgesellschaft muss auch die Eingewanderten einbeziehen, ihre Geschichten und die ihrer Herkunftsländer.
„Einwander*innen sind irritiert, wenn wir den Eindruck vermitteln, dass ihre historische Erfahrung weniger Gewicht hat als unsere.“
Martin Link, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein
Bedeutet das nicht, den Holocaust in eine Reihe mit anderen Taten zu stellen und in gewisser Weise mit ihnen gleichzusetzen?
Link: Die Debatte über die historische Einmaligkeit des Holocaust ist sehr deutsch, Eingewanderte können sie oft nicht nachvollziehen. Dass eine Mehrheitsgesellschaft versucht, einzelne Gruppen auszumerzen, ist auch eine Erfahrung in der Geschichte von Einwander*innen. Sie sind irritiert, wenn wir den Eindruck vermitteln, dass ihre historische Erfahrung weniger Gewicht hat als unsere. Ja, der Holocaust hat mit der industriellen Vernichtung von Millionen Menschen eine andere Dimension, aber Genozid bleibt Genozid. Wenn wir zu einem pluralen Erinnern kommen wollen, dürfen wir in der Einwanderungsgesellschaft die Erfahrungen, die andere mitbringen, nicht abwerten, sondern müssen unsere Geschichte gemeinsam verarbeiten.
Schomaker: Wir müssen Erinnern global denken. Ich verstehe das „Nie wieder!“ als universellen Ausdruck für Menschenrechte. Ganz konkret: Ich trete für den Schutz jüdischen Lebens und für das Existenzrecht Israels ein und kann doch gleichzeitig die katastrophale Situation der Menschen im Gazastreifen beklagen und über Kolonialismus und seine Folgen diskutieren.

Was müsste passieren, um dieses Ziel zu erreichen, und wie profitiert die Mehrheitsgesellschaft davon?
Link: Es gibt bis dato kaum ein politisches Bewusstsein dafür, dass es in einer diversen Gesellschaft eine gemeinsame Vergewisserung der Geschichte geben muss. Einwanderung soll autochthone Bedarfe befriedigen, etwa dem Mangel an Arbeitskräften, und einer demographischen Schieflage abhelfen. Aber anzukommen gelingt dem besser, der die Geschichte des Einwanderungslandes erfährt und deren Spuren in der erlebten Gegenwart nachvollziehen kann. Gemeinsame historische Bezüge zu finden, kann zu einer zukunftsorientierten, gemeinsamen Perspektive verhelfen. Darüber wollen wir ins Gespräch gehen und hoffen auf Förderung.
Wofür genau wünschen Sie sich diese Förderung?
Schomaker: Der Flüchtlingsrat und die Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein möchten Migrant*innenorganisationen einladen und mit allen gemeinsam überlegen, wie wir die Strukturen und Inhalte der Erinnerungsarbeit öffnen und Erinnerungskultur weiterentwickeln können. Ich möchte betonen: Hinter dem Wunsch, etwas zu ändern, steckt keine Kritik an den Akteur*innen der Erinnerungsarbeit und der historisch-politischen Bildung, die – oft ehrenamtlich – eine sehr gute Arbeit machen. Aber unsere Gesellschaft ist vielfältiger geworden, und das muss sich auch in ihrer Erinnerungskultur ausdrücken.

Das ist ein langfristiges Projekt. Was sind die nächsten konkreten Schritte?
Link: Ganz konkret wollen wir mit einem Projekt, das zunächst auf drei Jahre angelegt ist, Eingewanderte und sich als generationenlang einheimisch verstehende Menschen dabei begleiten, sich an die nationalsozialistische Geschichte anzunähern. Orte dieser gemeinsamen Annäherung werden zunächst ausgewählte Gedenkstätten sein, die auch schleswig-holsteinische Geschichte transparent machen. Das Projekt zielt darauf, diverse Perspektiven auf die Vergangenheit auszutauschen, Gemeinsamkeiten historischer und moderner Gewaltherrschaften zu entdecken, miteinander die Wurzeln der demokratischen Gegenwart des Einwanderungslandes nachzuvollziehen und gemeinsame Strategien einer künftig diversen Gedenkstättenarbeit und eines Engagements für den gesellschaftlichen Zusammenhalt anzustoßen.
Rückschlag für das Projekt
Aber gerade erst haben wir hier einen förderungspolitischen Rückschlag erlitten. Nachdem wir eineinhalb Jahre auf den Bescheid des Bundes für das beantragte Projekt warten mussten, haben wir eine Abfuhr erhalten – obwohl Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus im Alltag und an den Wahlurnen um sich greifen. Unser Anliegen sei zu teuer. Aber vielleicht ist eine erfolgreiche und diverse Verteidigung der Demokratie gegen die sie zersetzenden Gefahren von Rechts nicht billiger zu haben?

Ist die Idee damit am Ende, oder können Sie auch ohne diese Förderung etwas tun?
Schomaker: In der Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte beraten wir gerade, wie wir das plurale Erinnern umsetzen können, und stellen uns die Frage, wie Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft aussieht. Dazu wollen wir ein Kooperations-Projekt starten. Wir werden im Sommer Migrantenselbstorganisationen und weitere potentielle Kooperationspartner:innen zu einem ersten Treffen einladen. Der Flüchtlingsrat wird ebenso dabei sein wie die Zentrale Bildungs- und Beratungsstelle für Migrantinnen und Migranten, ZBBS, in Kiel. Wir freuen uns, wenn viele andere, zum Beispiel die Nordkirche, mitmachen. Gemeinsam werden wir beraten, ob es nur eine fixe Idee ist oder ob und wie wir an diese Aufgabe rangehen wollen.
Herr Link, Herr Schomaker, vielen Dank für das Interview!
Martin Link, geb. 1958, wuchs in Niedersachsen auf. Der gelernte Sozialpädagoge ist seit fast 30 Jahren Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein.
Heino Schomaker, 1955 in Wandsbek geboren, leitete die Heinrich-Böll-Stiftung in Schleswig-Holstein und ist ehrenamtlicher Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein.