Mehr Grau wagen

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Alle reden vom Wetter. Unser Kolumnist Martin Lätzel nicht. Er wünscht sich mehr Zwischentöne in der Diskurskultur.

Ich liebe das Grau. Da ich in Norddeutschland wohne, kenne ich regenschwere, dunkle Wolken zur Genüge. Und ich freue mich über jeden sonnigen Tag mit blauem Himmel. Das Grau des Wetters meine ich allerdings nicht. Vielleicht geht es auch gar nicht so sehr um das Grau an sich. Doch dazu später. Mir geht es nämlich um ein besonderes Plädoyer: Ich liebe das Grau der Zwischentöne.

Es ist bestimmt zwanzig Jahre her, ich war noch Berufsanfänger und dementsprechend enthusiastisch und idealistisch, da nahm mich ein älterer und erfahrener Kollege zur Seite. Worum es ganz genau ging, weiß ich heute nicht mehr. Vermutlich hatte ich mich über irgendetwas aufgeregt, was meiner Meinung nach nicht so gut funktionierte und was man nur zu ändern bräuchte. Dafür müssten die wirklich Guten ans Ruder kommen, die, die alles richtig machten. Nun lächelte eben jener ältere Kollege und machte mir in einem freundlichen Gespräch deutlich, dass die Welt viel komplexer sei, als ich mir das vorstellen würde. Sie sei eben nicht eindeutig aufgeteilt zwischen Gut und Böse, und vor allem nicht in Schwarz und Weiß zu lesen. Die Welt ist grau, sagte er mir abschließend metaphorisch, und das hat sich mir seitdem nachhaltig eingeprägt.

50 Shades of Grey: Sloterdijk, Hegel & die Eule der Minerva

Natürlich ist es einfacher sich die Welt eindeutig aufgeteilt vorzustellen. Das war schon Inhalt der alten Lehre vom Manichäismus, der zwischen zwei Naturen unterschied, einer des Lichtes und einer der Finsternis sowie den Kampf derselben. Wenn es doch so einfach wäre. Als gäbe es nur den hellen Tag und nur die dunkle Nacht zwischen Himmel und Erde. Aber ist es nicht gerade die Dämmerung, die Vieles in neuem, weil diffuserem Licht erscheinen lässt? Dem Philosophen Georg Friedrich Hegel zufolge fliegt die Eule der Minerva, das Symbol für Weisheit, in der Dämmerung, weil die Erkenntnis erst auf den Tag folgen kann. Das ist retrospektiv gedacht. Wenn wir nach vorne schauen, zeichnet die Dämmerung mit ihrem ganzen Farbspektrum ein viel besseres Bild der Wirklichkeit, als das Wort grau bezeichnen kann.

Umso trefflicher ist es, dass just in diesen Tagen der Philosoph Peter Sloterdijk eine philosophisch-literarische Farbenlehre zum Grau vorgelegt hat. Wer noch kein Grau gedacht hat, ist kein Philosoph, behauptet er dort kühn. Mit Sloterdijk will und kann ich mich nicht messen; aber diesen Satz will ich gerne unterschreiben. Zur Philosophie und sicher zur Alltagsklugheit gehört es meines Erachtens, in grau denken zu können, Zwischentöne wahrzunehmen und vor allem Zweifel – eben Zwielicht, Dämmerung – zuzulassen. Das muss wieder kulturprägend werden.

280 Zeichen für den Diskurs

Ich will niemandem pauschal unterstellen, nicht differenziert denken und argumentieren zu können. Allerdings wage ich die Beobachtung zu formulieren, dass die Zuspitzung mittlerweile derart diskursprägend ist, dass zumindest im Großen und Ganzen kein Platz mehr ist für alles, was dazwischenliegt. Die Entwicklung ist nicht neu, sie wird durch die sozialen Medien noch unterstützt. Eine Ansicht muss man heute prononciert formulieren, um sich Gehör zu verschaffen – gerne mit Überspitzungen, um als Headline wahrgenommen zu werden. Ein differenzierter Diskurs ist nun mal komplexer zu führen und passt kaum in 280 Zeichen oder 45 Sekunden. Wenn also durchaus die Fähigkeit vorhanden ist, differenziert zu argumentieren, spielt das in der öffentlichen Debatte leider kaum noch eine Rolle.

Wir kennen die Analysen von Elisabeth Wehling was das Framing politischer Botschaften angeht; wir wissen um die Thesen von Chantal Mouffe, wenn es um die Antagonismen politischer Botschaften geht. Problematisch wird das alles, wenn wir uns alleine auf der Ebene manichäischen Denkens bewegen und in öffentliche Schwarz-Weiß-Malerei verfallen.

Auch bunt ist nicht Schwarz-Weiß

Bitte mehr Grau wagen. Das ist, was ich mir für unsere Gesellschaft unbedingt wünschen würde. Nicht, weil ich den Diskurs verwässert sehen möchte, sondern weil ich angesichts drängender und komplexer Themen hoffe, dass es uns gelingt, zu ausgewogenen und damit fundierten Lösungen zu kommen. Und wem das Grau nicht passt: In Michael Endes Roman Momo haben die grauen Herren eine miese Rolle. Sie stehlen den Menschen die Zeit. Vielleicht mag deswegen die Analogie mit dem Grau etwas gewagt sein. Umso mehr gilt es dann darum, bunt zu werden. Bunt ist ebenfalls etwas anderes als Schwarz-Weiß. Wenn wir also schon nicht die Farbe Grau bemühen wollen, um für eine ausgewogenere Diskussionskultur in unserer Gesellschaft zu plädieren, dann sollten wir darüber sprechen, dass sie bunter werden muss. Beide Analogien stehen für mich dafür, dass das wirkliche Leben und unsere Gesellschaft nicht allein in Dichotomie bestehen, sondern derart vielfältig und komplex sind, dass die Mühe lohnt, sich auf unterschiedliche argumentative Pfade zu begeben. Ja, das dauert mitunter länger. Ja, das mag etwa komplizierter sein. Ja, man macht sich vielleicht angreifbarer. Die Mühe ist es dennoch wert.

Martin Lätzel ist Autor und Publizist, Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek und Honorarprofessor im Fachbereich Medien an der Fachhochschule Kiel. Für kulturkanal.sh schreibt er über Digitalisierung und Kultur.

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