Millionen von Menschen, darunter rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden, aber auch Sinti und Roma, politisch anders Denkende und Unangepasste, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen und psychisch Kranke, fielen der Mordmaschinerie des deutschen NS-Staates zum Opfer. Zu ihrem Andenken findet am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Ausschwitz durch die Rote Armee 1945, der Tag der Opfer des Nationalsozialismus statt. Zum diesjährigen 80. Jahrestag lädt Schleswig-Holstseins Landtagspräsidentin Kristina Herbst zu einer zentralen Feier in die Marine-Schule in Flensburg Mürwik ein. Dagegen protestieren Leiter:innen von Gedenkstätten und anderen Organisationen. Denn in Mürwik residierte ab dem 3. Mai 1945 die letzte Regierung der nationalsozialistischen Diktatur.
Vermischung ziviler Opfer mit Kriegstoten
„Es ist für uns nicht nachvollziehbar, das Gedenken an die Opfer des NS-Regimes – zentrale Aufgabe des 27. Januar – am Täterort in Mürwik zu praktizieren“, heißt es in einem Offenen Brief, den unter anderem die Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein (LAGSH) und der Vorstand der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein unterzeichneten. Es bestehe auch die Gefahr, die Getöteten „auf einen rein militärischen Kontext zu reduzieren“, befürchten die Unterzeichnenden.

Dabei geht es am 27. Januar eben nicht um getötete Soldaten, sondern um Menschen aus der Zivilbevölkerung, die in Deutschland und in den von der Wehrmacht besetzen Ländern als „Fremdkörper“ aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen wurden. So sagte es auch der damalige Bundespräsident Roman Herzog (CDU), als er den Gedenktag im Jahr 1996 ins Leben rief: „Der 27. Januar soll dem Gedenken an die Opfer der Ideologie vom ’nordischen Herrenmenschen‘ und von den ‚Untermenschen‘ und ihrem fehlenden Existenzrecht dienen.“
Landtag will „Schleswig-Holsteins Rolle beleuchten“
Landtagspräsidentin Herbst (CDU) erklärt, warum sie im 80. Jahr nach Kriegsende das Gedenken nach Mürwik zu verlegt: „Die Veranstaltung soll beleuchten, welche Rolle Schleswig-Holstein und der Sonderbereich Flensburg-Mürwik als Sitz der letzten Reichsregierung gespielt haben.“ Gerade die letzte Kriegsphase sei „äußert zerstörerisch und mit besonders hohen Opferzahlen verbunden“ gewesen. Die Gedenkfeier solle „einen Beitrag zur weiteren Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der eigenen Landesgeschichte zu leisten“.
Damit richtet sich der Blick über den 27. Januar hinaus bereits auf den 8. Mai, den Tag des Kriegsendes. In der Vergangenheit fand an diesem Tag eine weitere Gedenkveranstaltung des Landes statt. Die soll in diesem Jahr aber ausfallen, stattdessen plant Kristina Herbst eine Tour zu ausgewählten Gedenkstätten. Dabei wäre der 8. Mai viel besser geeignet, an einem Ort mit Militärgeschichte zu gedenken, glauben die Autor:innen des Offenen Briefes. Sie fragen: „Warum findet eine zentrale Gedenkveranstaltung zum Kriegsende nicht in Mürwik statt oder im einstigen Reichskriegshafen Marinestützpunkt Kiel-Wik?“

Ausgerechnet in einer Zeit, in der „Rechtspopulismus und Rechtsextremismus Zulauf und Einfluss verzeichnen“, brauche es mehr Gelegenheiten, sich politisch zu bekennen, fordern die Unterzeichner:innen des Briefes.
Auch die militärische Vergangenheit einbinden
Landtagspräsidentin Kristina Herbst weist die Kritik zurück. Sie sei seit längerem im engen Austausch mit der Marineschule und der jüdischen Gemeinde in Flensburg, sagte sie dem NDR. Alle Seiten hätten das Gedenken mitgeplant und sich positiv dazu geäußert. Für sie sei es richtig und wichtig auch Orte der militärischen Vergangenheit in das Gedenken an die Opfer einzubinden.

In den vergangenen Jahren fanden die Gedenkfeiern meist im Plenarsaal des Kieler Landeshauses statt. Aber es gab auch Veranstaltungen an anderen Orten im Land, so zum Beispiel 2019 in Lübeck. Anlass war der 25 Jahre zurückliegende Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge im März 1994. Bei den Gedenkfeiern stehen alljährlich andere Themen im Mittelpunkt. Im Januar 2024 warf Andrea Löw, stellvertretende Leiterin des Instituts für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München, einen Blick auf den jüdischen Widerstand und besonders auf die Rolle von Frauen im Widerstand. In diesem Jahr spricht der Militärhistoriker Sönke Neitzel, Professor an der Universität Potsdam. Im Anschluss an die Reden sprechen Shmuel Havlin, Militärrabbiner der Bundeswehr, und die evangelische Bischöfin Nora Stehen, Gebete für die Ermordeten.