„Bocksgesang“: Sündenböcke und dicke Bauern

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Franz Werfels „Bocksgesang“ ist über 100 Jahre alt, aber ein passender Beitrag zur Debatte um Zuwanderung und Fremdenhass. Zumindest, wenn es so auf den Punkt gebracht wird, wie es das Schleswig-Holsteinische Landestheater in seiner aktuellen Aufführung tut.

Dass etwas nicht stimmt in dieser Familie, diesem Dorf, dieser Gesellschaft, ist auf den ersten Blick klar. Das Bühnenbild von Marcel Weinand, der auch die Kostüme verantwortet, besteht aus einer schiefen Ebene – da kann nichts gerade laufen oder gar aufwärts gehen. Uraufgeführt wurde das Stück 1922 in Wien, Moritz Nikolaus Koch hat es nun für das Landestheater inszeniert. Zu Beginn feiern Mirko (Aaron Rafael Schridde) und Stanja (Maja Grahnert) Verlobung, ihre wohlhabenden Familien verbinden sich. Doch es liegt ein Schatten über der Szene. Nicht nur wegen Stanjas wortloser Abneigung gegen die Verbindung und ihr späteres Eingeständnis, sie habe sich schon für einen anderen interessiert, einen „Studierten“. Sondern vor allem, weil Mirkos Eltern (Tom Wild und Illi Oehlmann) ein Geheimnis verbergen: In einer Hütte auf dem Grundstück lebt ihr erstgeborener Sohn, der mit einer Fehlbildung zur Welt kam.

Die Wut konzentriert sich auf die „Landlosen“

Stanja (Maja Grahnert) soll Mirko (Aaron Rafael Schridde, vorn) heiraten, aber es zieht sie zum Studenten Juvan (Tomás Ignacio Heise). Foto: Landestheater SH


Die Scham und das Entsetzen der Eltern darüber ist so groß, dass sie eigene Kind weder sehen noch darüber sprechen wollen. Das Geheimnis liegt wie Mehltau über allem, was der Vater Stevan Milič anpackt. Im Rat, dem er als reichster Mann der Gegend vorsitzt, tratschen alle schon darüber: Sein prächtiges Vieh hat Klauenseuche, sein Geschäftspartner bleibt ihm Geld schuldig. Als der geheime Sohn dann eines Tages entkommt, gerät Milič in Furor. Seine Wut konzentriert sich auf die fremden „Landlosen“, die seit einiger Zeit in der Gegend sind. „Eine Plage“, wie die Bauern finden.

Zwei von ihnen bitten im Namen ihrer Gruppe, sich ansiedeln zu dürfen, sei es aus Mitleid, sei es aus Vernunft: „Keine Wohltat, eine Investition“, erklärt der „Amerikaner“ (Martin Maecker) den Ratsmitgliedern. Schließlich würden sie Brachland bebauen, arbeiten, Steuern zahlen.

Wut auf die Fremden – beklemmend aktuell


„Es ist zu erwägen“, sagt eine Stimme aus dem dunklen Zuschauerraum. Doch drei, vier andere schreien die Bitten nieder. Da auch sie aus dem Saal dringen, werden die Besucher:innen unfreiwillig zur schweigenden Mehrheit, die nichts sagt, um die Fremden zu verteidigen – eine beklemmend aktuelle Situation.


Den Ausschlag gibt Milič, der den Landlosen in einer wirren Wutrede vorwirft, sie müssten „weg, weg, fort“. Denn sie seien „Söhne der Blutschande“ und trügen das „Gesicht des böckischen Affen“. Er meint seinen eigenen Sohn, der seltsame Rufe ausstößt, eben den titelgebenden Bocksgesang. Statt nach ihm zu suchen und dem buchstäblich hausgemachten Problem auf dem Grund zu gehen, werden die Fremde zu Sündenböcken gemacht – auch das ist beklemmend aktuell.

Die Landlosen folgen dem Studenten (Tomás Ignacio Heise, vorn mittig). Foto: Landestheater SH

Personen und Konflikte sind in deutlichen Farben geschildert


Wie dieser geheime Sohn nun wirklich aussieht, bleibt unklar. Ist er des Teufels oder eine spielerische Laune der Natur, wie der Arzt (Reiner Schlehberger, der auch die Magd Babka und den Landlosen Teiterlik spielt) meint? Oder ist er ein Wundermensch, ein Symbol der Freiheit, wie die Landlosen hoffen, die unter dem Kommando des skrupellosen und brutalen Studenten Juvan (Tomás Ignacio Heise) den Aufstand gegen die bäuerliche Bevölkerung wagen?

Eigentlich ist das egal, für das Stück wie für die gesellschaftliche Realität hier und heute. Es geht um Hass, der auf beiden Seiten wächst, wenn Gruppen nicht mehr sprechen, sondern schreien und kämpfen. Und darum, wie dieser Hass entsteht.

Es geht um Hass, der auf beiden Seiten wächst, wenn Gruppen nicht mehr sprechen, sondern schreien und kämpfen.Und darum, wie dieser Hass entsteht.

Denn die Anführer beider Gruppen haben eigene Gründe, auf Kampf statt auf Versöhnung zu setzten. Auf der einen Seite steht Milič, der von seinem entstellten Sohn ablenken will, auf der anderen Seite der Student Juvan (Tomás Ignacio Heise). Weil er unehelich und arm aufwuchs, ist er von Wut auf die bürgerliche Gesellschaft erfüllt. Dass er möglicherweise ebenfalls ein geheimer Sohn von Milič ist, wird angedeutet und gibt eine zusätzliche Würze.

Wie es sich fürs expressionistische Theater gehört, sind Personen und Konflikte in deutlichen Farben gemalt. Die Vertreter:innen des bürgerlichen Lagers tragen Wülste unter den Kleidern, sind dick und sesshaft. Während des Kampfes ist die Bühne in rotes Licht getaucht. Am Ende haben sich fast alle Beteiligten ganz buchstäblich die Hände blutig gemacht: Beim Studenten Juvan reicht die Farbe bis zu den Ellenbogen, Milič und Mirko tragen rote Spuren an den Händen. Auch wenn nach vielen Toten am Ende ein neues Leben entsteht, ist das nicht wirklich ein Happy End.

Nächste Termine:

13.02.2025 | 20.00 Uhr | Neumünster | Theater in der Stadthalle

22.02.2025 | 19.00 Uhr | Schleswig | Slesvighus

05.03.2025 | 20.00 Uhr | Husum | Husumhus

06.03.2025 | 19.30 Uhr | Flensburg | Stadttheater

27.04.2025 | 18.00 Uhr | Schleswig | Slesvighus

04.05.2025 | 18.00 Uhr | Rendsburg | Stadttheater

14.05.2025 | 19.30 Uhr | Schleswig | Slesvighus

27.05.2025 | 19.30 Uhr | Flensburg | Stadttheater

30.05.2025 | 19.30 Uhr | Flensburg | Stadttheater











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