Das Unternehmerpaar Peggy Morenz und Michael Angern hat in Lübeck in einem alten Kornspeicher das Kolumbarium DIE EICHE eröffnet. DIE EICHE ist ein Urnenfriedhof und gleicht einer musealen Kunstsammlung. Das Mantra lautet: Bloß nicht billig! Bloß kein Kitsch!
Es ist der letzte Sommertag im Herbst 2024. Grell leuchtet die Sonne die Stadt aus. Frauen tragen Minikleider, und Männer schlurfen in kurzen Hosen. Das Leben trumpft noch einmal auf und zelebriert die Leichtigkeit des Seins. Klaus Weiser ist das egal. Er sitzt im Kolumbarium Lübeck und redet über den Tod. Der 70-Jährige arbeitet hier als Trauerbegleiter. Er weiß: Gestorben wird immer. Auch bei schönem Wetter. Weiser gehört seit Anfang 2023 zum Team von Morenz und Angern. Die Eröffnung des Kolumbariums im Juni 2024 wurde mit großer medialer Berichterstattung begleitet. Der NDR, DIE WELT, die Süddeutsche Zeitung, alle haben berichtet. Der Tod wohnt im Kornspeicher. Das ist eine schöne Geschichte.
Peggy Morenz und Michael Angern haben den Kornspeicher im Jahr 2013 gekauft. Er sei „schockverliebt“ gewesen, als er zum ersten Mal in das Haus am Lübecker Hansahafen gestolpert sei, erzählt Angern. Von der Besichtigung bis zum Abschluss des Notarvertrages ist nur eine Woche vergangen. Dann folgt eine aufwendige Sanierung, die zehn Jahre dauert. Morenz und Angern haben lange um die Bauabnahme gekämpft, für die zuletzt 15 Brandschutzkonzepte eingereicht werden mussten, aber das Unternehmerpaar ließ sich nicht beirren: Hier an der Obertrave, direkt in der Altstadt, würde der Tod seine Adresse bekommen. Das siebenstöckige Gebäude ließ Kaufmann und Senator Thomas Johann Heinrich Mann 1873 als Kornspeicher erbauen. Der Mann, dessen Söhne Thomas und Heinrich später eine deutsche Schriftsteller-Dynastie begründen sollten. Angern erzählt, auf der Treppe neben dem Eingang hätten die beiden Brüder miteinander Fangen gespielt. Ob das stimmt, weiß er nicht, aber auch das ist eine schöne Geschichte.
Michael Angern stammt aus Lübeck und ist studierter Forstwirt. Eine Stelle im deutschen Staatsforst kam für den 65-jährigen Unternehmersohn jedoch nie in Frage. Er gründete Ende der 80er-Jahre ein IT-Unternehmen, das Spezialsoftware für Bestattungsunternehmen vertreibt. „Ich saß auf einem Sarg“, erzählt er, als er seinen ersten Geschäftstermin wahrgenommen hat. Peggy Morenz hat bei ihrem Vater im thüringischen Jena Feinmechanikerin gelernt und eine große Passion für Porzellan entwickelt. Die 52-Jährige hat war als Produktmanagerin bei Villeroy & Boch und Rosenthal tätig. Später hat sie Porzellan- und Holzurnen entwickelt und über eine eigene Firma vertrieben.
Die Geschichte der Kolumbarien ist mit der Zunahme der Feuerbestattungen verbunden und geht bis in die Antike zurück. Man unterscheidet sie als Indoor-Friedhöfe, aber es gibt auch Urnenwände unter freiem Himmel. Was es bisher nicht gibt, ist ein Kolumbarium, das den Tod so explizit mit künstlerischen und ästhetischen Mitteln erzählt – und genau das ist der USP in Lübeck. In einer Selbstbeschreibung heißt es, DIE EICHE verbinde in einem „seelsorgerischen und kuratorischen Konzept Architektur, Licht und Raum sowie Bildende Kunst mit den Zeichen und Dingen der Verstorbenen. „Diesen Impuls braucht die Bestattungsbranche dringend“, so Angern. Es gehe um nicht weniger als eine neue Abschiedskultur, es gehe um das Erinnern und damit um die Würdigung des Lebens und des Todes.

„Der Tod ist unbequem“
Der alte Speicher hat sieben Geschosse. Böden nannte man das früher. Man betritt das Kolumbarium durch eine schwere Holztür und steht zunächst in einer kleinen Empfangshalle. Moderne Stühle und Tische, ein Schreibtisch, der Look ist aufgeräumt und clean. Hier werden die Gäste des Hauses von den Trauerbegleitern begrüßt. Es kommen Angehörige, aber auch Menschen, die sich für eine Beisetzung interessieren oder einen Urnenplatz reservieren möchten.
Weiser und seine derzeit 17 Kollegen bieten Rundgänge durch das Haus an. Weiser sagt: „Es gibt Angehörige, die kommen jede Woche, andere nur hin und wieder. Wenn eine Vertrautheit da ist, dann gehen die Gespräche auch in die Tiefe.“
Angern und Morenz haben DIE EICHE unter die Aufsicht von Erzengel Michael gestellt. Die Holzfigur aus dem 17. Jahrhundert hängt im Eingangsbereich. Michael gilt als Hauspatron, der, mit einer Seelenwaage in der Hand, Gut und Böse in seine Schalen wirft. Doch lassen sich Gut und Böse eigentlich gegeneinander aufwiegen? Und soll man im Angesicht des Todes nicht großzügig sein und mit dem Herzen sehen?
Um aus dem Eingangsbereich das Innere des Hauses zu betreten, muss man zwei schwere Decken aus schottischer Wolle, die als Vorhänge dienen, beiseiteschieben. Hier wird die Sonne von der Dunkelheit verschluckt. „Übergang“ haben Morenz und Angern das genannt. Das alte Fassadenschild von Firmengründer Johann Siegmund Mann haben sie hier hingehängt. Er ist der Urgroßvater der bekannten Literaten Thomas und Heinrich Mann. Mann gilt als kluger Geschäftsmann, der ab 1794 mit dem Handel mit Getreide den Wohlstand der Familie begründet. Ohne ihn kein Kornspeicher, keine Schriftstellerei, keine Buddenbrooks.
Tatsächlich sind die Buddenbrooks die wohl berühmtesten Zeitzeugen der Hansestadt und haben sich längst in ihre Signatur eingeschrieben. Und so lässt Sohn Thomas, der spätere Literaturnobelpreisträger, den Kornspeicher auch in seinem Roman „Die Buddenbrooks“ auftauchen. Sein Protagonist Thomas Buddenbrook schwärmt, für ihn sei „dieses Stück Welt am Hafen, zwischen Schiffen, Schuppen und Speichern, wo es nach Butter, Fischen, Wasser, Teer und geöltem Eisen roch, von klein auf der liebste und interessanteste Aufenthalt gewesen.“ So wie der Schriftsteller die fiktive Geschichte vom Leben einer Kaufmannsfamilie, einer Stadt und Gesellschaft zum Leben erweckte, so sollen in diesem alten Speicher die Geschichten der Verstorbenen weiterleben.
Vom „Übergang“ kommt man in eine kleine Feierhalle. Von oben herab hängt eine Lichtskulptur der Schweizer Künstlerin Madlaina Lys. Sie trägt den Namen „Seelenlichter“ und hat mehr als 12.700 Porzellanplättchen an Fäden aufgereiht, die tatsächlich eine beinahe unheimliche Magie freisetzen. Die weißen Plättchen können alles sein: Schneeflocken, Sternenfunken, Tränen – oder eben Seelenlichter. Vielleicht stellt man es sich genau so vor: Die Seele steigt auf und alles ist schwerelos, weil die Seele keine Materie ist, sondern nur eine Ahnung. Die Skulptur ist das Herzstück des Hauses und von erhabener Schönheit. Sie schafft das, was Angern und Morenz sich wünschen: Eindruck.
Seelenlichter zünden die Magie des Hauses
Die Halle bietet Platz für etwa 80 Menschen. Verwendet wurden alte, restaurierte Kirchenbänke aus Österreich. Die Sitzfläche habe man vergrößert. „Der Tod ist unbequem“, sagt Peggy Morenz, und weil man auf den schmalen Bänken nicht gut sitzen könne, wurden sie verbreitert. Auf dem ersten und zweiten Boden, in direkter Gesellschaft mit den Toten, stehen Polstermöbel. „Wer es bis hierhin geschafft hat, der ist möglicherweise schon einen Schritt weiter“, sagt Morenz. Wer gemütlich sitzt, kann es mit der beißenden Trauer vielleicht etwas besser aufnehmen. Die Halle wird nicht nur für Trauerfeiern genutzt. DIE EICHE versteht sich als offenes Haus, in dem Musikabende, Lesungen und Kunstausstellungen stattfinden. Der Tod trägt Trauer, aber man soll auch das Leben feiern.
Aus der Halle blickt man zum ersten Mal auf die Böden eins und zwei. Die schweren Balken wurden freigelegt, im Original erhalten und mit einer Glasbrüstung verbunden. Man habe die setzkastenartige Bauweise übernommen, erzählt Angern und Wert daraufgelegt, die Geschichte des Kaufmannshauses nachzuerzählen. So sind ein Spiegelsaal, vier Galerien, eine Bibliothek und ein Kabinett eingerichtet worden. Man habe sogar noch, erzählt Angern, Getreidekörner von damals auf den Böden finden können. Angern greift in ein Fach am Schreibtisch. Sie werden hier in einem kleinen Glas aufbewahrt.
Zum Spiegelsaal auf dem ersten Boden gehören zwei Wände, die grün-silbrig in den Raum glitzern und aussehen wie auf dem Wasser spielende Wellen, und wenn man rausschaut, blickt man auf den Hansahafen direkt an der Trave. So ist das mit dem Leben und dem Sterben: Die Wellen schlagen an und spülen zurück. Es ist ein Kommen und Gehen. Für die Wände wurde mundgeblasenes Glas von einem Fachbetrieb zugeschnitten. Die einzelnen Scheiben sind verspiegelt worden und dann hat man sie künstlich altern lassen. Jeder Spiegel ist ein Unikat. Die Urnen, die in diese Wände eingelassen werden, hat Peggy Morenz designt. Die schmalen Quader schließen mit einem nach unten gebogenen Deckel ab, der ebenfalls einer Welle gleicht und auf den ein letzter Brief oder ein Andenken gelegt werden können. In einer der Kammern wird ein „Rückblicke-Buch“ aufbewahrt, in dem gemeinsam mit einem Biografen Lebensgeschichten niedergeschrieben werden können. „Seelenspaziergänge“ nennt Morenz das. Zusätzlich steht ein großer Schreibtisch im Raum. Hier können die Angehörigen ihre Gedanken selbst zu Papier bringen und die Briefe in einem Tresor aufbewahren.
Die vier Galerien, verteilt auf die beiden Böden, sind den Themen Kosmos, Natur, Traumwelten und Weisheit gewidmet. Sie werden in den Farben blau, gelb, grün und rot angestrahlt und sind mit kleinen Vitrinen gestaltet, in die Erinnerungsstücke platziert werden können. Hier finden sich beispielsweise eine stilisierte Denker-Figur, Apotheker-Utensilien und eine verblühte Sonnenblume. „Lebenszeichen“ nennen Angern und Morenz das. Die individuellen Erinnerungen des Einzelnen sollen einen Gedächtnisspeicher entstehen lassen und eine Abschiedskultur formen. Etwas, das der Stadt und der Gesellschaft etwas gibt, das es zu bewahren gilt. „Ohne dieses kollektive Gedächtnis werden wir alle geschichtsvergessen“, so Angern.
„Wir werden alle geschichtsvergessen“
Auf dem zweiten Boden findet sich das Kabinett, eine weitere Urnenwand. Michael Angern und Peggy Morenz schaffen hier einen der berührendsten Momente. Mit Kokons aus im Allgäu gefilzter Schafwolle geben sie Sternenkindern ein Zuhause, die nach dem deutschen Personenstandsgesetz weder angemeldet noch bestattet werden müssen. Sie wurden entweder vor der 26. Schwangerschaftswoche verloren oder haben bei ihrer Geburt weniger als 500 Gramm gewogen. Früher entsorgte man diese Kinder mit dem Klinikmüll. Eine ältere Frau, die ihr Kind vor Jahrzehnten verlor und nie einen Ort für ihre Trauer fand, hat einen dieser Kokons gemietet und für sich selbst eine Urne in der Nähe. Geheimnisvoll ist: Die Kokons wiegen im Mittel genau 21 Gramm und tragen damit das „Gewicht der Seele“. „Das war ein Zufall“, erzählt Peggy Morenz. „Wir sind fast ohnmächtig geworden, als wir das entdeckt haben.“ Denn hier spinnt sich noch eine alte Geschichte ins Haus: Duncan MacDougall, ein US-amerikanischer Arzt, versuchte im frühen 20. Jahrhundert, das „Gewicht der Seele“ durch das Wiegen sterbender Patienten zu bestimmen. Die Experimente gelten heute als unwissenschaftlich, seine 21-Gramm-Hypothese spielt aber in der Popkultur nach wie vor eine Rolle und geistert als MacDougalls Vermächtnis durch die Welt – und durch das Lübecker Kolumbarium.

Die vier Bibliotheken im Haus erzählen 38 Lebensthemen, wie beispielsweise die Themen Wandel, Zeit und Spiel durch einzelne Kunstwerke. Nur ein paar Schritte weiter öffnet sich die Pforte zum „Paradies“. So nennen Angern und Morenz das Gemeinschaftsgrab im Kolumbarium. Der Künstler Aron Demetz aus Italien hat eine Tür aus einer 1000 Jahre alten Pappel geschaffen, die in den Tiefen eines Moores konserviert und so schwer ist, dass sie es mit einem Fels aufnehmen kann. Die Urnen dahinter stehen in Regalen und werden durch die mächtige Tür verschlossen.
Der Weg durch das Kolumbarium gleicht dem Gang durch eine Kunstausstellung. Angern ist Performer. Er sagt, er habe sich immer wohl gefühlt, wenn er übererfüllt hat. „Ich möchte, dass die Leute das Haus verlassen und denken: ‚Das hätte ich nicht besser machen können.’“ Das Unternehmerpaar schafft selbst die Veränderung, die es in der Diskussion um den Bestattungswandel sehen will. Es gebe, so Angern, einen verhängnisvollen Trend zur anonymen Bestattung. „Friedhöfe sind Teil der Daseinsvorsorge. Der Staat hat eine Fürsorgepflicht und ja, den Menschen wird die Grabpflege zu viel, aber das heißt nicht, dass sie zwingend anonym beigesetzt werden wollen.“ Man müsse ihnen etwas Anderes anbieten, sagt Angern und meint damit sein Kolumbarium.
Angaben zu anonymen Bestattungen erscheinen widersprüchlich. Pressesprecherin Elke Herrnberger vom Bundesverband Deutscher Bestatter e. V. teilt auf Nachfrage mit, sie könne zur anonymen Beisetzung keine Zahlen nennen. „Sie bilden aber sicherlich die Ausnahme“, schreibt sie. Wie der Verband auf seiner Homepage veröffentlicht, wird bei mehr als 75% der Verstorbenen in einem Jahr die Feuerbestattung gewählt. Es gebe Gebiete, die auf einen Anteil von über 90% kommen, und es käme darauf an, ob man eher im Städtischen oder im Ländlichen messe oder eher in Süd- oder Ostdeutschland. „In der ehemaligen DDR war beispielsweise die Kremation eine Standard-Bestattungsform.“
Die Feuerbestattung erfreue sich vor allem deshalb größter Beliebtheit, so Herrnberger weiter, weil pflegefrei bestattet werden kann. „Wir leben alle nomadisch und wohnen nicht mehr an dem Ort, an dem unsere Eltern beigesetzt sind.“ Eine Urne ermögliche zu dem viele verschiedene Bestattungsvarianten wie die Baum-, Wald-, Luft- und Seebestattung – und natürlich die Beisetzung in einem Kolumbarium. Es gab eine Zeit, in der ein Holzkreuz in die Erde geschlagen wurde, und ein Efeu rankte darüber. Mittlerweile können aus der Asche von Verstorbenen Diamanten gepresst werden. „Die Individualität der Bestattungen wird hochgehalten“, sagt Trauerbegleiter Weiser. Er habe gelernt, dass es viel Fassade im Leben gibt. „Manches sieht so toll aus, aber wenn die Fassade zusammenbricht, bleibt oft nicht so viel.“ Doch sind wir nicht wenigstens im Tod alle gleich? Ist das nicht genug Trost über die Endlichkeit des Lebens?
„Die, die zu uns kommen, wollen aufräumen“, sagt Morenz. Inzwischen seien ca. 40 Verstorbene in der EICHE beigesetzt und etwa 100 Urnen reserviert. Dem Vorwurf, das Kolumbarium sei nur etwas für Gutbetuchte, begegnet Angern mit Zahlen. Die Preise im Kolumbarium richten sich nach dem Volumen der Urnen. „Das günstigste Grab bei uns kostet 2.800 Euro und davon haben wir mehr als die Hälfte. Es entstehen auch keine weiteren Kosten.“ Die Totenruhe ist auf 15 Jahre festgelegt.
Der Tod ist ein Designobjekt
Morenz und Angern und das Interieur des Hauses – das ist im wahrsten Sinne ein Stück Kunstgeschichte. Für die ausgestellten Kunstgegenstände ist ein kleines Heft aufgelegt worden, das insgesamt 81 Werke auflistet. Dazu gehören Bilder, besondere Urnen, Münzen, ein Fruchtbarkeitsring – von überall her zusammengetragen, sorgfältig ausgewählt und mit eigenen Texten und Geschichten vorgestellt. Man wolle alles sein, nur kein „unaufgeräumter Souvenirladen“ und so lassen Morenz und Angern jedes Detail erzählen. Alles ist wertvoll, nichts wird vergessen. Das Unternehmerpaar begegnet dem Tod auf Augenhöhe. Es hat etwas geschaffen, das den Zeitgeist überdauern soll. Ist der Tod ihr Lebensthema? „Nein“, sagen beide. Sie sind sein Mittler, und ihnen gelingt mit ihrem Gespür für Architektur und Kunst eine einzigartige Würdigung. Sie verdichten den Tod zu einem eigenen Narrativ, tiefsinnig und ernsthaft. Das Kolumbarium ist vollständig durchchoreografiert. Nichts behindert das ästhetische Empfinden. Kein Kitsch, keine Beliebigkeit nirgends. Nur einer stört die schöne Kulisse und das ist der Tod, aber immerhin: Sein Auftritt an der Trave ist stilecht.

Morenz und Angern stemmen sich mit aller Macht gegen das Vergessen und versuchen, den Augenblick zu fangen, der bleibt. Das ganze Haus atmet Geschichte, und jeder Winkel ist Teil einer Inszenierung. Und doch möchte man irgendwann in Ruhe gelassen werden von all den Geschichten und Interpretationen. Man möchte einfach nur den eigenen Gedanken lauschen. Man möchte nichts sein und nichts darstellen und schon gar nicht von einer überbordenden Historie auf die eigene Kunstsinnigkeit geprüft werden. Man nennt das Overacting, wenn beim Schauspiel übertrieben wird. Heute, so scheint es, ist das Leben tatsächlich bis zuletzt eine Bühne. Man sucht noch am Ende die eigene Referenz und es bleibt die Frage: Ist der Tod auch ein Spiegel von Eitelkeiten geworden? Wo endet das Leben und wann beginnt die Inszenierung?
„Wir haben insgesamt einige Millionen investiert“, sagt Michael Angern. „In der EICHE steckt ein Großteil unseres Vermögens. Wir haben uns nackig gemacht.“ 2020 hat er sein Unternehmen mit 56 Mitarbeitern verkauft. Für künftige Gewinne soll eine Stiftung gegründet werden. Hauptzweck wird die Förderung der Abschiedskultur und sozialer Aufgaben sein.
„Die, die zu uns kommen, wollen aufräumen“
Was kann man noch sagen, jetzt, wo der Tod an die Trave gekommen ist? Man solle das Leben vom Ende her denken, so Angern. Alles sei nur deshalb schön, weil es irgendwann vorbei ist. „Überfluss verdirbt den Charakter. Man kann nur ein Würstchen essen. Beim dritten wird einem schlecht.“ Angern erzählt, dass er früher einfach schnell sterben wollte, doch das habe sich geändert. „Ich möchte das Sterben wahrnehmen als finale, große Empfindung. Ich möchte wissen, dass ich jetzt sterben werde und mich mit dem Tod anfreunden. Ich bin gespannt, ob das anhält oder ob man jetzt großspurig ist und sagt, ich bin der Held und dann doch ganz klein wird.“
Peggy Morenz hat andere Pläne. Sie will mit einem Biografen alle fünf Jahre auf ihr Leben schauen. Dieser Rückblick soll dann als eine Art emotionales Vermächtnis anstelle einer Trauerrede auf ihrer Beisetzung vorgelesen werden. Mit dieser „Seelenhygiene“, wie sie sagt, will sie Dinge klarstellen und ordnen. Ihr wäre es am liebsten, sie würde umfallen und tot sein. „Wenn ich langsam dahinsieche, würde ich mich wegsedieren und gucken, dass ich da irgendwie hinkomme. Ich würde aufhören zu essen und alles ablehnen. Wenn man in einer Traumwelt so dahinsegelt, ist das doch auch ganz schön.“
Trauerbegleiter Weiser betrachtet das Leben als Schulung. Er beschäftigt sich schon seit seiner Jugend mit dem Tod und sucht spirituelle Wege. Er sagt: „Unsere wahre Heimat ist die geistige Welt. Wir sind Fleisch und Blut und leben in Materie, aber das ist nicht das zentrale Thema.“ Wenn wir unserem Leben einen Sinn geben, ist dann das Sterben leichter? „Ja“, sagt Weiser, „ich denke, ja.“ Die richtige Berufswahl, eine gute Partnerschaft, das mache ein zufriedenes Leben aus.
Ob es denn auch eine Geisterstunde gebe, ist Angern von einer Besucherin gefragt worden. Er war überrascht. Weder er noch Peggy Morenz hatten sich dazu Gedanken gemacht und entschieden, dass fortan immer um Mitternacht Musik gespielt wird und ein kleines Licht in der Halle angeht. Im Halbdunkel ist dann ein Bild zu sehen, das „Nach dem Fest“ heißt und von Friedel Anderson, einem Künstler aus Itzehoe, stammt. Es zeigt eine der verlassenen Tischtafeln, die er immer wieder malt. Zu sehen sind geöffnete Weinflaschen, ein leeres Weinglas, Essensreste auf zwei Tellern. Dazu Servietten und Besteck und ein Mokka, der nicht ganz ausgetrunken wurde. Man sieht eine Kerze, die ausgeblasen ist und eine, die noch brennt. Es muss ein langer Abend gewesen sein und jeder weiß doch: Wenn es am schönsten ist, muss man gehen.