Dieser Roman wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet: Halbinsel von Kristine Bilkau. Im Gespräch mit Pauline Reinhardt von kulturkanal.sh erzählt die Schriftstellerin von Krisen, Generationenkonflikten und der Brüchigkeit von Landschaft.
Darum geht es in Halbinsel: Ein Haus am Wattenmeer. Eine Mutter und ihre Tochter. Und einen Versuch der Annäherung zwischen den Generationen.
Die Bibliothekarin Annett holt ihre Tochter Linn, Mitte 20, nach deren Zusammenbruch zu sich nach Hause, ans Meer, auf der Halbinsel Nordstrand. Linns Vater ist bereits in ihrer Kindheit verstorben. Aus einem Aufenthalt von einer Woche werden zwei, drei Wochen, dann Monate, in denen die beiden Frauen ihr Leben überdenken und neu ausrichten: Annett, die ihre Trauer um den verstorbenen Ehemann immer noch nicht zulässt und Linn, die um die Welt vor der Klimakrise trauert.
kulturkanal.sh: Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum Preis der Leipziger Buchmesse für deinen neuen Roman Halbinsel! Wie geht es dir damit?
Kristine Bilkau: Dankeschön! Diese Auszeichnung ist eine große Freude. Es waren Tage mit viel Aufregung, vielen schönen Begegnungen und Gesprächen. Die Stadt Leipzig ist zur Buchmesse ein einziges Lese- und Literaturfest, das ist wirklich etwas Besonderes. Jetzt bin ich wieder zu Hause in Hamburg und kann alles ein bisschen verarbeiten. Die Messe hat ein wahnsinniges Tempo, da kommen die Empfindungen kaum hinterher.
Bei Halbinsel handelt es sich um so einen unglaublichen Gegenwartsroman. Es geht um die Nachwehen der Pandemie und die Gefühle zur Klimakrise – Themen, über die viel gesprochen, aber nur selten ein Roman geschrieben wird. Was war für dich der Antrieb, über diese Themen zu schreiben?
Ich hatte das Gefühl, dass sich besonders in den vergangenen zehn Jahren sehr viel aufgebaut hatte an existenziellen, globalen und sozialen Krisen. Zehn Jahre, die für jüngere Menschen ja eine andere Zeitspanne sind, als für ältere. Wie wirkt sich das auf die Beziehungen zwischen den Generationen aus? Wie sprechen sie über die Welt? Ich habe versucht, diese großen, komplexen Zusammenhänge und diese Mischung aus Sorge und Wehmut, den Verlust von Gewissheiten innerhalb eines kleinen Radius’ zu erzählen.
Im Zentrum meiner Geschichte stehen Annett und Linn, eine Mutter und ihr erwachsenes und erschöpftes Kind. Annett steht vor der Frage, ob ihre Generation mehr hätte tun müssen und können gegen die Ursachen der Erderwärmung. Als einzelne Person fühlt man sich oft ohnmächtig und ausgeliefert, andererseits weiß unsere Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten, dass unser Lebenswandel so nicht aufrecht erhalten werden kann. Den Jüngeren, zu denen Linn gehört, werden diese großen Probleme übergeben und es wird einfach erwartet, dass sie damit zurechtkommen.
Annett befindet sich als Mutter in Konflikten und Widersprüchen. Einerseits wünscht sie sich für Linn, dass sie zuversichtlich ins Leben startet, voller Hoffnung und voller Lust auf die Zukunft. Andererseits ist Linn mit bedrückenden Nachrichten zum Zustand des Planeten aufgewachsen, Nachrichten, die sie täglich begleiten, schon morgens vor Schulbeginn durch das Radio. Annett hätte diese Nachrichten für ihre Tochter Linn am liebsten ausgeblendet, doch das ist nicht möglich.
Von diesen Widersprüchen wollte ich erzählen. Ich kreise bei meinem Schreibprozess immer um die Figuren. Alles an gegenwärtigen Debatten zeigt sich wie von selbst durch die Geschichte der Figuren. Annett und Linn, die diese Welt wahrnehmen und das, was passiert, verarbeiten müssen, so wie wir alle.

Wie war es für dich über diese Krisen zu schreiben – hilft dir das besser mit ihnen umzugehen oder löst das nur noch mehr Emotionen aus?
Das Schreiben an sich hat nichts Therapeutisches. Ich schreibe nicht, um über irgendetwas hinwegzukommen. Ich schreibe, um meiner Wahrnehmung und meinen Beobachtungen, meinen eigenen Gedanken und Gefühlen auf die Spur zu kommen. Das kann auch eine gewisse Ordnung in diffuse Gefühlslagen bringen. Durch die Romanfiguren lassen sich Fragen oder Beobachtungen klar benennen. Hier kam zum Beispiel für mich die Frage auf, wie wir als Gesellschaft über jüngere Menschen sprechen. Denn manches daran finde ich seit einiger Zeit recht problematisch.
Was genau findest du daran problematisch?
Es scheint ein sich wiederholender Konflikt zu sein, dass ältere Generationen manchmal verständnislos, besserwisserisch oder auch abwertend über die jüngeren sprechen. Aktuell nehme ich viele Klischees wahr: Die jüngere Generation sei arbeitsscheu, kümmere sich zu viel um ihre mentale Gesundheit, kreise nur um sich selbst, um einige Beispiele zu nennen.
Erstens finde ich, dass es alles andere als negativ sein muss, die Arbeitswelt kritisch zu hinterfragen oder sich um seine mentale Gesundheit zu kümmern. Zweitens verkennen diese Vorwürfe, dass die heute 20- oder 25-Jährigen, wie meine Protagonistin Linn, in ziemlich atemlosen, krisenhaften Jahren aufgewachsen sind: Brexit, erste Trump-Wahl, die Flut an Fake News, die zunehmend verrohte Sprache, wenn es um Menschen geht, Krieg und bedrohte Demokratien. Dazu haben sie eine Pandemie durchlebt und sollen die Klimakrise verarbeiten. Das ist alles sehr viel und absolut existenziell.
Ich würde gerne noch auf den Ort zu sprechen kommen. Dein voriger Roman Nebenan spielt in einem durch den Nord-Ostsee-Kanal geteilten Dorf. Eine Halbinsel hingegen ist ein Ort des Dazwischens, weder Insel noch Festland. Warum hast du dich für diesen Schauplatz entschieden?
Es ist die Brüchigkeit und Veränderbarkeit von Landschaft, die hier eine Rolle spielt. Bei Nebenan ist es der Kanal, der das Dorf zerteilt hat. Für Halbinsel wollte ich mich entlang der Nordseeküste bewegen, mit ihrer Landschaft, die sich über die Jahrtausende immer wieder stark verändert hat, die von Umbrüchen und Katastrophen, aber auch von Widerstandskraft erzählt. Dazu kommt meine persönliche Verbindung zur Nordsee: Meine Mutter ist an der Nordsee geboren, meine Großmutter hat dort gelebt und meine Urgroßeltern auch. Mein Urgroßvater, den ich aber nie kennengelernt habe, hat vor vielen Jahrzehnten geführte Wattwanderungen angeboten, wie sie auch in dem Roman vorkommen.
Das Wattenmeer war als Erzählraum wichtig für mich. Ich habe für meinen Roman mehrere Wattwanderungen zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten gemacht, es ist faszinierend, wie sich diese Landschaft durch Licht und Wetter immer wieder wandeln kann. Die Wattlandschaft mit ihren unterschiedlichen Stimmungen kann wie ein Spiegel für die Ängste und Sehnsüchte meiner Figuren sein. Auch zeigt sich, wie unterschiedlich Annett und Linn auf diese Landschaft blicken, auf die Historie, aber auch auf die Zukunft. Dabei spielt unter anderem die große Flut von 1362 eine Rolle, die weite Teile der Küste verschlungen und gravierende Spuren hinterlassen hat. Mutter und Tochter beschäftigen sich ganz unterschiedlich mit dieser Flut. Annett sieht darin ein Ereignis der Vergangenheit. Linn denkt an die Zukunft.

Kristine Bilkau: Halbinsel
München 2025: Luchterhand
224 Seiten, 24 Euro
ISBN: 978-3-630-87730-3
In dem Roman geht es um die vielen verschiedenen Gefühle in Bezug auf die Klimakrise. Wie können wir mit diesen Gefühlen umgehen?
Bei Annett und Linn geht es unter anderem um Trauer. Es gibt zum einen die Trauer um den früh verstorbenen Vater von Linn und zum anderen eine leise, diffuse Trauer um verschwindende Landschaften, aussterbende Arten und abschmelzende Gletscher. Die Mutter Annett sieht zwischen diesen unterschiedlichen Trauergefühlen keinen Zusammenhang. Für ihre Tochter Linn aber sind es ähnliche Arten von Trauer und Wehmut. Dabei geht es um Verlusterfahrungen. Sich ehrlich damit auseinanderzusetzen, dass es diese Mischung an Gefühlen in Bezug auf das Klima gibt, ist ein Anfang.
In Halbinsel möchte Annett ihrer Tochter vor allem Zuversicht geben, aber Linn sehnt sich nach Aufrichtigkeit. Über Aufrichtigkeit nachzudenken und eine Sprache der Aufrichtigkeit zu finden für das, was in der Welt passiert, darum ringt Linn – und auch wir haben das alle in der Hand.