Das Leben von Opfern der NS-Diktatur in den Mittelpunkt stellen, nicht deren Tod: Das ist die Idee der Initiative „Denk mal am Ort“. Sie entstand 2016 in Berlin. Jetzt erreicht die Bewegung Schleswig-Holstein.
„Ich bin seit drei Jahren mit der Idee infiziert“, sagt Ralf Diez. Der systemische Berater, der in Eckernförde lebt, lernte „Denk mal am Ort“ in Hamburg kennen und holt das Projekt nach Schleswig-Holstein. Im Frühjahr 2026 sollen Gedenkveranstaltungen in Rendsburg und Groß Wittensee stattfinden.
Offene Häuser in den Niederlanden
Den Anstoß gab Marie Rolshoven. Die Berlinerin hat als Kulturwissenschaftlerin unter anderem für die Gedenkstätte Deutscher Widerstand gearbeitet. Bei einer Tagung lernte sie die Niederländerin Denise Citroen kennen, die gemeinsam mit dem Jüdischen Historischen Museum Amsterdam die Initiative „Open Joodse Huizen“ – „offene jüdische Häuser“ – gründete. Seit 2012 finden in den Niederlanden in Privathäusern, Schulen oder Vereinsheimen kleine Feiern und Gedenkveranstaltungen statt, in denen an die Menschen gedacht wird, die dort vor oder während der NS-Zeit gelebt haben. Diese Idee nahm Rolshoven mit nach Berlin. Die erste Wohnung, in der eine Gedenkveranstaltung stattfand, war ihre eigene.

Gemeinsam mit ihrer Mutter, der Politikwissenschaftlerin und Künstlerin Jani Pietsch, erforschte Rolshoven die Geschichte des Hauses und lud Gäste ein, die sich an die ehemaligen Bewohner:innen erinnern wollten. Bei der ersten Veranstaltung saßen neun Personen um den Küchentisch der Wohnküche, im nächsten Jahr schon doppelt so viele. Auch im Atelier der Mutter fanden Treffen statt. Wie genau die Veranstaltungen ablaufen, ist immer etwas unterschiedlich. Aber die Atmosphäre sei ganz anders als etwa bei einem Besuch in einer Gedenkstätte, berichtet Rolshoven bei einem Pressegespräch in Rendsburg. „Es fühlt sich an wie bei einer privaten Feier. Man kommt ins Gespräch, tauscht sich aus.“
Die Nachfahren sind oft dabei
Eine Besonderheit ist, dass bei vielen Veranstaltungen auch die Nachfahren der damals vertriebenen oder getöteten Bewohner:innen dabei sind. Teils reisen sie an, teils schalten sie sich per Video zu. Einige seien anfangs skeptisch gewesen, sagt Rolshoven. Doch die besondere Art der Veranstaltung überzeuge die meisten. „Wenn man die Schwelle eines Hauses übertritt, macht das etwas.“

Die Idee wanderte von Stadt zu Stadt, anfangs dank privater Kontakte: Eine Tante von Marie Rolshoven lud zu einem „Denk mal am Ort“ in Frankfurt ein, eine Freundin organisierte ein Gedenktreffen in München. 2019 gründeten Rolshoven und ihre Mitstreiter:innen einen Verein. „Darüber können wir Förderanträge stellen“, sagt die Initiatorin. Unter anderem die Postcode-Lotterie und die Stadt Berlin unterstützen das Projekt. Fördermittel müssen allerdings jährlich neu beantragt werden: „Das Geld ist immer ein Thema“, sagt Rolshoven. Zwar arbeiten alle Beteiligten ehrenamtlich, aber es entstehen Kosten, etwa für Faltblätter, auf denen die Gedenk-Orte in einer Stadt aufgeführt sind.
Allein in Hamburg waren es im Jahr 2024 acht und im Jahr 2025 ganze zehn Veranstaltungen, die sich über zwei Tage erstreckten. Mit dabei war auch Ralf Diez, der einen Vortrag über Liesel Goetze-Taylor hielt. Die Tochter eines jüdischen Arztes emigrierte in der NS-Zeit, arbeitete für den britischen Geheimdienst und kehrte nach dem Krieg nach Hamburg zurück, wo sie die Bahnhofsmission leitete. „Es reisten einige ihrer Angehörigen an, das war sehr aufregend und schwierig für mich, die richtigen Worte zu finden“, berichtet Diez, der Goetze-Taylor noch persönlich kannte. Um so froher war er nach dem Vortrag über das Lob und die Freude der Angehörigen.

Rendsburg als erster Standort in Schleswig-Holstein
Für 2026 plant Diez nun ein Denk-mal-am-Ort-Wochenende in Rendsburg und umliegenden Gemeinden. Das Jüdische Museum hat bereits Interesse an einer Zusammenarbeit signalisiert, Kontakte bestehen zu einer Initiative in Groß Wittensee. Auch Rendsburgs Bürgermeisterin Janet Sönnichsen freut sich über diese besondere Art des Gedenkens.
Bundesweit findet „Denk mal am Ort“ in zeitlicher Nähe zum Kriegsende, also zwischen Ende April bis Anfang Juni, statt. In Rendsburg ist das Wochenende am 16. und 17. Mai geplant. Das hat auch einen praktischen Grund: „Nicht überall möchte die heutigen Bewohner:innen eine Veranstaltung in ihrem Haus abhalten“, sagt Diez. „Im Mai ist es oft schon warm genug, um sich vor der Tür zu versammeln.“
Vor oder in welchen Häusern die Gedenk-Treffen stattfinden, steht aber noch nicht fest. Diez hofft auf die Zusammenarbeit mit örtlichen Schulen. Sein Vorschlag: Als Projektarbeit könnten Jugendliche zum Beispiel die Geschichte von Häusern erforschen, vor denen „Stolpersteine“ an ehemalige jüdische Bewohner:innen erinnern. Hinweise darauf finden sich in städtischen und anderen Archiven. „Wir helfen mit Tipps und Kontakten bei der Recherche“, verspricht Rolshoven.
Ralf Diez kann sich vorstellen, dass die Schüler:innen im Rahmen ihrer Recherche in Kontakt zu heutigen Besitzer:innen kommen. „Möglicherweise gestattet jemand einen Besuch“, hofft Diez. Denkbar sei auch, dass jemand von sich aus meldet und sein Haus für ein Treffen anbietet. Schließlich ist die Idee von „Denk mal am Ort“, dass sich Menschen mit der lokalen Geschichte befassen. „Wenn jemand seine Wohnung öffnet, helfen wir gern mit der Organisation, beschaffen Stühle oder sorgen für Kontakt zu Nachfahren im Ausland“, verspricht Marie Rolshoven.