Wolfgang Herrndorf und Norderstedt: Eine Spurensuche – Teil 2

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Ein Pastor, ein Lehrer und kein Denkmal – so lässt sich meine Recherche zum Verhältnis von Norderstedt zu Wolfgang Herrndorf stichwortartig zusammenfassen. Im ersten Teil bin ich darauf eingegangen, wie Wolfgang Herrndorf seinen Heimatort dargestellt hat. In diesem Teil stellt sich die Frage: Wie blickt man in diesem Ort auf den Maler und Schriftsteller? Wie erinnert man sich an den Autoren von Tschick? Wie setzt man dem bekanntesten Sohn der Stadt ein Denkmal?

Ein Pastor

Wolfgang Herrndorf war voller Widersprüche – so beschreibt es Tobias Rüther, sein Biograf. Einer dieser Widersprüche:

„Wolfgang Herrndorf ist überhaupt nicht religiös gewesen. Aber die Frage nach dem Glauben hat ihn offensichtlich beschäftigt und auch gereizt, sodass er immer wieder andere davon überzeugen musste: Es gibt keinen Gott, kein Schicksal und keine Fügung.“

Egal seien ihm die Themen Glaube und Religiosität offensichtlich nicht gewesen, denkt Tobias Rüther. Dazu komme, dass Herrndorf in seinen Werken Naturerfahrungen häufig als etwas Übersinnliches dargestellt habe.

Deswegen erstaunt es auch nicht, dass Martin Lorenz von der Garstedter Emmaus-Gemeinde am 12. Januar 2014 über den Künstler gepredigt hat – und über Tschick. In seiner Predigt thematisierte der Pastor, dass der Atheist Wolfgang Herrndorf mit dem Gottesdienst vermutlich nicht einverstanden gewesen wäre. Und dennoch könne man von ihm und von Tschick etwas über Glauben lernen.

Der Pastor bezieht sich unter anderem auf eine Szene relativ am Ende von Tschick, in der Maik über die vergangene Reise nachdenkt. Wie in jedem Coming-of-Age und/oder Bildungsroman gewinnt der (Anti-)Held Erkenntnis. Bei Tschick ist das folgende: Maiks Vater, seine Lehrer, die Nachrichten und Spiegel TV hätten ihm immer vermittelt, der Mensch sei schlecht.

„Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. Da klingelt man nachts um vier irgendwen aus dem Bett, weil man gar nichts von ihm will, und er ist superfreundlich und bietet auch noch seine Hilfe an.“

Wolfgang Herrndorf: Tschick

Martin Lorenz‘ Predigt zeigt uns – und der Autor zeigt uns das vielleicht auch selbst –, dass es bei Herrndorf vielleicht keinen Gott, kein Schicksal und keine Fügung gibt. Aber es gibt das Gute im Menschen. Martin Lorenz drückte es 2014 in seiner Predigt wie folgt aus:

„Es gibt das eine Prozent von Menschen, die – wie Maik sagt – nicht schlecht sind. Das heißt doch: die sich berühren lassen vom Antlitz eines anderen Menschen. Mehr ist für ein gutes gemeinsames Leben nicht nötig. So können wir Sätze sagen wie: Du bist nicht langweilig, du bist nicht wertlos, du bist nicht schuldig, du bist nicht hässlich.“

Martin Lorenz erinnert sich noch heute, zehn Jahre später, an diese Predigt, denn: „Die Kirche war voll mit Leuten, die Wolfgang Herrndorf kannten. Es war einfach ein schöner Gottesdienst.“ Wenn man den 12. Januar 2014 mit dem 7. März 2024 ersetzt, die Kirche mit der Stadtbücherei Norderstedt-Mitte und den Gottesdienst mit der Lesung, kommt dasselbe bei raus: Die Menschen in Norderstedt erinnern sich gern an ihren Künstler zurück.

Ein Lehrer

Tschick ist Schullektüre an vielen Schulen des Landes – und darüber hinaus, wie Tobias Rüther in seiner Biografie beschreibt, wenn er schildert, wie die zehnte Klasse einer deutschen Schule auf Klassenfahrt in Hamburg und Berlin die Buchläden stürmt, um das Buch zu kaufen und im Unterricht durchzunehmen.

Tschick ist auch Schullektüre am Coppernicus-Gymnasium in Norderstedt-Garstedt, wo Wolfgang Herrndorf 1984 selbst sein Abitur gemacht hat. Der Lehrer Frank Galgenmüller unterrichtet dort seit 2018 Deutsch und Englisch. Er hat das Buch bereits zweimal an dem Gymnasium gelesen – jeweils mit einer achten Klasse. Die Schüler*innen sind dann 14 oder 15 Jahre alt, also im selben Alter wie die Protagonist*innen.

Bevor Frank Galgenmüller anfängt mit seinen Schüler*innen das Buch zu lesen, thematisiert er, dass der Autor nicht nur in derselben Stadt wie sie aufgewachsen ist, sondern auch dieselbe Schule besucht hat. „Die haben mich ungläubig angeschaut: Der war auf dem Coppernicus-Gymnasium?“, erzählt er. Für die Schüler*innen sei es motivierend, das zu hören – und auch, wie erfolgreich der Autor gewesen ist. Das biete „mehr Identifikationspotenzial“.

Ansonsten bindet Frank Galgenmüller die Themen des Buches aber nicht unmittelbar an Norderstedt, denn sie seien „ort- und zeitlos“. „Tschick ist ein moderner Klassiker, der nicht zwanghaft versucht Aktuelles einzubringen. Das Buch werde ich auch in zehn Jahren noch in der achten Klasse lesen.“

Ein Schüler, über den 40 Jahre nach seinem Abitur noch an seiner damaligen Schule gesprochen wird: Wolfgang Herrndorf bleibt.

Kein Denkmal

In Berlin gibt es ein Denkmal für Wolfgang Herrndorf, genauso, wie er es sich gewünscht hat: ein Metallkreuz nahe des Strandbads Plötzensee, an der Stelle, an der er sich vermutlich umgebracht hat.

Kreuz am Berliner Nordufer an der mutmaßlichen Stelle von Wolfgang Herrndorfs Suizid 2013 © ChickSR / Wikimedia Commons

In Norderstedt gibt es kein Denkmal für Wolfgang Herrndorf. Es gibt weder eine Statue noch ein Museum oder eine Dauerausstellung. Nicht mal eine Straße wurde nach ihm benannt.

In Lübeck gibt es das Günter Grass-Haus, in Seebüll das Nolde Museum, in Husum das Theodor-Storm-Haus und auf Helgoland das James-Krüss-Museum. Und in Norderstedt? Dort spielt der bekannteste Sohn der Stadt kaum eine Rolle in der Öffentlichkeit und in den Institutionen – abgesehen von dem Erinnern, das Einzelpersonen wie der Pastor Martin Lorenz, der Lehrer Frank Galgenmüller oder auch die Organisator*innen der Lesung in der Stadtbücherei Norderstedt-Mitte anregen.

Jens Geinitz vom Stadtarchiv berichtet, dass ihm keine Informationen zu Wolfgang Herrndorf vorliegen. Wer nicht in Norderstedt geboren oder gestorben ist (Wolfgang Herrndorf wurde in einem Hamburger Krankenhaus geboren und starb in seiner Wahlheimat Berlin), falle häufig aus der Archivarbeit heraus. Als ich ihn durch meine Anfrage auf Herrndorf aufmerksam mache, zeigt er sich dankbar. Zukünftig werde er aufmerksam nach Unterlagen zu dem Künstler Ausschau halten.

Dietmar Drews, der Leiter der Stadtbücherei Norderstedt-Mitte, verkündet zum Ende der Lesung im März, er sei im Gespräch bezüglich einer Norderstedter Ausstellung von Herrndorfs gemalten Werken.

Vielleicht sind das ja die Anfänge einer zukünftigen Erinnerungskultur an Wolfgang Herrndorf.

Beiläufig und alltäglich

Doch wie könnte man Wolfgang Herrndorf darüber hinaus ein Denkmal in Norderstedt setzen? Eins, das dauerhafter ist als eine Lesung oder Ausstellung, eins, das zugänglicher ist als etwaige Archivunterlagen.

Das Coppernicus-Gymnasium in Wolfgang-Herrndorf-Gymnasium umbenennen? Nicht die beste Idee angesichts der Tatsache, dass sein Nachname so häufig falsch geschrieben wird, wie Tobias Rüther in seiner Biografie berichtet: „Serielles Namenfalschschreiben ist aber ja nichts Neues für Wolfgang Herrndörfler.“

Ein Schild hinstellen, dort wo der Künstler aufwuchs, mit der Aufschrift „Diesen Himmel malte und beschrieb Wolfgang Herrndorf“? Leider etwas kitschig und etwas wenig, die Idee erinnert an diese Bilderrahmen, die in der Gegend rumstehen, damit Tourist*innen Fotos machen.

Tobias Rüther hat auf meine Nachfrage nach dem geeigneten Denkmal für Herrndorf eine Idee:

„Im Möhlenbarg, wo Wolfgang Herrndorf aufgewachsen ist, gibt es zwischen jedem Wohnblock eine Wiese. Dort könnte man einen goldenen Fußball platzieren, um an Herrndorf zu erinnern. Etwas, das unter dem Himmel liegt, etwas, das mit Bewegung und großen Freundesgruppen zu tun hat. Etwas ganz Beiläufiges und Alltägliches, das man erst auf den zweiten Blick entdeckt.“

Beiläufig und alltäglich, vielleicht auch etwas ironisch – das klingt nach einer Arbeit des Bildhauers Thomas Judisch, der in seinen Installationen aus einem Fenster im zweiten Stock zusammengeknotete Hemden hängen lässt oder Müllsäcke aus Glas und Pferdeäpfel aus Bronze auf dem Boden platziert. Vielleicht will ihn ja jemand damit beauftragen, Wolfgang Herrndorf ein Denkmal zu setzen?

Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie. Berlin 2023: Rowohlt Berlin. 384 S., 25 €, ISBN: 978-3-7371-0082-3.

Wolfgang Herrndorf: Tschick. Hamburg 2023: Rowohlt Taschenbuch. 368 S., 11 €, ISBN: 978-3-499-01321-8.

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