Sie laufen weitgehend unter dem Radar, füllen eine literarische Nische, sind quicklebendig und im Aufwind. Die Rede ist von den offenen Lesebühnen Schleswig-Holsteins. Die Betonung liegt hier auf „offen“ – ein festes Ensemble gibt es nicht. Lesen darf, wer sich angemeldet hat.
Unter den selbst verfassten Texten findet sich viel Überraschendes, Kunstvolles, Authentisches und Berührendes. Etliches hat hohe Qualität, aber Qualität ist nicht das Maß der Dinge. Es zählt die Freude am Schreiben, am Mit-Teilen und Geteilt-Bekommen. Dabeisein ist alles. Genau darin liegt die Stärke des Formats. Neben alten Lese-Hasen melden sich Menschen zu Wort, die zum ersten Mal vor fremden Leuten Eigenes vortragen, beim nächsten Termin vielleicht zum zweiten Mal, zum dritten Mal… Mit wachsendem Mut tasten sie sich voran, testen ihr Publikum, entwickeln ihren Schreibstil und ihre Performance. Für ehrenamtliche Organisatoren wie mich [Anm. der Redaktion: Der Autor Werner Hajek ist Mitorganisator der Freien Lesebühne Flensburg.] ergeben sich daraus Abende, in denen die Glückshormone Tango tanzen (oder Pogo, je nach Temperament). Das Überraschendste zeigt sich aber erst hinterher, bei mir meist auf dem Nachhauseweg. Denn die Stile und Themen eines Abends mögen krass verschieden gewesen sein: von der empfindsamen Lyrik bis zum fiesen Kurzkrimi, vom Fantasy-Abenteuer unter Dämonen bis zu den Wirrungen der ersten Liebe. Dennoch ergibt sich aus den rund acht bis zehn Beiträgen der gut 90 Minuten unweigerlich ein rundes Ganzes. Wie das? Das bleibt ein ebenso beeindruckendes wie ungelöstes Phänomen des Formats.
Publikum und Mutterschiff
Wer kommt zu einer offenen Lesebühne? Vor ein paar Jahren war es ganz überwiegend die Generationen 40+, 50+ oder 60+. Aber inzwischen suchen verstärkt Jüngere den ruhigeren und kleineren Rahmen, ein Format, in dem das Experimentieren wesentlich leichter fällt als beispielsweise unter dem Druck eines Poetry Slam.
Hier ist ein Ort, an dem auch Unfertiges seinen Platz hat.
Das Mutterschiff der meisten offenen Lesebühnen unseres Bundeslandes lief 2008 in Hamburg vom Stapel. Nach wechselnden Liegeplätzen ging die Offene Lesebühne Hamburg-West schließlich im Ottenseer Kulturzentrum Motte vor Anker und wird dort bis heute von immer neuen Besuchergenerationen geentert. Betreiber der Lesebühne ist die Textfabrique 51, von deren ursprünglich fünf Gründern zwei übriggeblieben sind. Der Standort Motte gilt für Ellen Balsewitsch-Oldach und Dirk-Uwe Becker als Glücksfall: „Wir sind mit offenen Armen aufgenommen worden, das ist heute noch eine echte Freude.“

Lesebühne nach Schleswig-Holstein. Foto: Hajek
Zwischen den Meeren
Inzwischen leben die beiden engagierten Literaten in Dithmarschen und gründeten dort 2016 prompt die Offene Lesebühne Meldorf, später auch die kurzlebige Bühne in Garding. Offene Lesebühnen, diese kleinen, nichtkommerziellen Nischen-Projekte, sind anfällig. Corona machte bald dem Gardinger Projekt den Garaus. Die Meldorfer Bühne brauchte diesen Frühling nach neun guten Jahren einen „Relaunch“ – in Form eines gut besuchten Autorenstammtisches mit interessanten Themen.
Doch die Idee der offenen Lesebühne streute, wobei neben Texten auch eigene Songs willkommen sind: 2018 Elmshorn, 2022 Husum und Flensburg, 2024 Niebüll, 2025 Mölln. Frisch aus dem Ei geschlüpft ist die Offene Bühne Klein Pampau (Herzogtum Lauenburg), ein gutes Beispiel für fließende Übergänge. Mitgründer Stefan Seyfarth ist zwar seit zwanzig Jahren Mitglied einer festen Dresdener Lesebühne. Doch im dünner besiedelten Umfeld kann man sich vielleicht schlecht spezialisieren. Jedenfalls ist in Klein Pampau alles willkommen, auch Akrobatik, Comedy und Zauberei.

Lesebühnen, hier bei der Neuen Färberei Kulturhaus Niebüll e.V. Foto: Hajek
Die Offene Lesebühne Hamburg-West war übrigens nicht die erste in Hamburg, wenn auch die letzte Überlebende einer ganzen Schar. Die erste war 2002 die „Spätlese“ aus Barmbek.
Aber woher kommt die Idee denn nun wirklich? Spuren weisen auf die offenen Bühnen für Musiker, oft als Open Mic bezeichnet, die sich irgendwann vor der Jahrtausendwende auch den Autoren öffnete.
Oder sollte die erste Lesebühne – wie es gelegentlich heißt –, mit oder ohne festes Ensemble, tatsächlich 1987 in Magdeburg entstanden sein, um bald von der Stasi verboten zu werden? Wer weiß, offene Lesebühnen sind eben immer für Überraschungen gut.
Transparenzhinweis: Werner Hajek ist einer von drei Organisierenden der Freien Lesebühne Flensburg und gehört hier und dort selbst zu den Vortragenden.