Die SHMF-Aufführungen von Dörte Hansens Roman Zur See sind mehr als nur Lesungen mit Musik: eine Performance, bei der einige Figuren aus der Familie Sander, den Protagonist*innen des Romans, portraitiert werden. Im wunderbaren Dreiklang ergründen sie die Frage: Warum fühlen wir uns von der See angezogen – wenn sie uns doch so viel Schaden zufügt?

Erstens: Der Seemann
Drei Menschen werden angekündigt: Dörte Hansen, Carolina Bigge, Thomas Niehaus. Und dann betritt erst einmal nur einer die Bühne: Ryckmer Sander. In der einen Hand ein Bier, in der anderen eine Nebelmaschine. Der Nebel, mit dem er den Zuschauerraum füllt, stellt den Rauch seiner Zigarette dar – und die weiße Wand, die er auf See gesehen hat und deretwegen er so viel trinkt und nur noch eine kleine Inselfähre fährt. Auf der Fähre steht er und friert. „Dass Festlandfrauen sich in ihn vergucken, kennt er schon. Dass sie ein bisschen in den wilden Bart verliebt sind, in seine alte Seemannsjacke und in den kleinen Ring aus Gold in seinem Ohr, das will er doch stark hoffen“, so zitiert er aus Zur See.
Die Zusammenarbeit mit den Musiker*innen sei sehr beglückend gewesen, erzählt Dörte Hansen am Tag nach der Föhrer Aufführung. Bei einigen Liedern hat sie sogar das Lesepult mit dem Gesangsmikrofon getauscht und mitgesungen. „Das hat mich selbst erstaunt. Ich musste sehr weit aus meiner Komfortszene gehen“, berichtet sie. „Das kann man nur mit solch angstfreien Menschen wie Carolina Bigge und Thomas Niehaus. Die beiden schaffen einen Rahmen, in dem man sich ausprobieren kann.“ Und auch das Schleswig-Holstein Musik Festival habe solch einen Rahmen geschaffen. Denn die drei hatten freie Hand bei der Gestaltung der Aufführungen. Herausgekommen ist etwas, das den Rahmen sprengt: Wer ist hier Schauspieler, wer Schriftstellerin, wer macht die Musik? . Die Rollen wechseln fließend, alle tragen etwas bei.
Zweitens: Der Vogelmann
Szenenwechsel – Kostümwechsel. Ryckmer zieht die Seemannsjacke aus, eine Windjacke an. Bier weg, Thermoskanne raus. Dazu ein Fernglas. Und schon ist er Ryckmers Vater Jens Sander, der alleine auf einer Vogelinsel lebt. „Es wird hier draußen niemals still. Selbst wenn nach Sonnenuntergang die Brachvögel und Seeschwalben allmählich Ruhe geben und die Austernfischer ein paar Stunden lang die Schnäbel halten, ist da immer noch der Wind.“ Jens Sander ahmt auf einer kleinen Pfeife Vogelstimmen nach. Großes Gelächter aus dem Publikum. Auch Dörte Hansen am Lesepult muss lachen.
Musik und Literatur sind für sie eng miteinander verbunden. Trotzdem höre sie keine Musik bei der Arbeit, erzählt die Schriftstellerin. Denn sie schreibt nach Gehör, sagt sich Sätze beim Schreiben vor. „Ich wollte eine Art Ode an die See schreiben – oder auch eine Anti-Ode. Deswegen hat das Ganze einen sehr rhythmischen Ton, ist jambisch geschrieben. Fast wie eine Ballade in Romanform.“
Drittens: Die Metalfrau
Thomas Niehaus verkörpert an diesem Abend zwei Rollen, Vater und Sohn. Doch die Musik verkörpert eine dritte Person: Eske Sander, Ryckmers Schwester und ein weiteres Kind von Jens. Auf einen Shanty folgt Heavy Metal. Carolina Bigge verausgabt sich an der E-Gitarre. Thomas Niehaus haut so stark aufs Schlagwerk, dass man sich fragt, ob es dabei Schaden nehmen kann. Aber Eske Sander ist eine Altenpflegerin, die auch nach einer harten Nachtschicht nicht so schnell kaputt zu kriegen ist. „Sie wirft die Brötchentüte auf den Rücksitz, dann sucht sie nach der Playlist mit der richtigen Musik für diesen Morgen. Dead by Dawn, warum nicht mal ein Klassiker. Ein kleiner Morgengruß an die Entschleunigten, es ist zu still in diesem Inseldorf.“
Dörte Hansen spricht davon, dass Musik in all ihren Romanen eine Rolle spielen würde – ohne dass sie es vorher beabsichtigt habe. „Hier ist es so: Ich brauchte diese Heavy Metal-Musik unbedingt für Eske. Ihre Revolte gegen diese Lebensart.“ Die Metalmusik stehe im Kontrast zu den Shantys, die das Leben zur See so sehr verherrlichten. Eske hingegen reibe sich an dem Ausverkauf und der Selbstvermarkung ihrer Insel auf. „Gleichzeitig ist sie so wahnsinnig verbunden mit der Insel, von der sie nicht weg kann.“
Dörte Hansen verrät noch: Sie schreibt gerade an ihrem vierten Roman. Im Frühjahr soll sie damit fertig werden, damit er im Herbst 2026 erscheinen kann. Trotzdem überlegen sie, Carolina Bigge und Thomas Niehaus die musikalisch inszenierte Lesung auszubauen und erneut aufzuführen. Das bleibt zu hoffen. Zwei Aufführungen sind einfach nicht genug für diese wunderbare Inszenierung, die dem Publikum Zur See noch so viel näherbringt, indem sie die Zwischenräume erkundet – zwischen Literatur und Musik und den Rollen, die wir spielen.
