Es sind nur ein paar Schritte vom Pfarramt und schon steht Robert Pfeifer in seiner Kirche. Er ist seit 2011 Pastor des Gotteshauses St. Marien, einer der geschichtsträchtigsten Orte in der Lübecker Innenstadt. „Die Kirche wird seit 2020 restauriert und mit ihr die Hinterlassenschaften des Kunstfälschers Lothar Malskat“, erzählt Pfeifer.
Die Kathedrale gilt als „Mutterkirche der Backsteingotik“ und gehört zum UNESCO-Welterbe. „Die Innenraumsanierung wird 28 Millionen Euro kosten, wobei 14 Millionen Euro vom Bund bereitgestellt werden. „Die andere Hälfte müssen wir selbst finanzieren“, sagt Liane Kreuzer, Architektin und Leiterin der Bauabteilung des Kirchenkreises Lübeck-Lauenburg. „8,2 Millionen haben wir schon geschafft.“ Die Zeit drängt, denn die restlichen 5,8 Millionen müssen bis spätestens Anfang November beisammen sein. Bis dahin gilt die Verfügungsberechtigung des Bundes, und das Geld muss abgerufen werden. „Zurzeit ist das Fundraising, also die Aquise von potenziellen Spendern, eines unserer Hauptaugenmerke. Dafür werden auf allen Ebenen des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens intensive Gespräch geführt. Wenn wir im Sommer 2025 mit der Sanierung beginnen könnten, wäre das super“, so die Bauchefin.
„Um die Schäden an den Malereien aufzunehmen, wurde schon im September 2021 ein riesiges Gerüst aufgestellt“, erzählt Pastor Pfeifer. Der Kunstmaler Lothar Malskat, der in den 50er-Jahren als „Meisterfälscher“ bekannt wurde, hatte an den Wänden, Pfeilern und in den Gewölben unzählige gotische Motive gefälscht. St. Marien ist so zum Schauplatz des größten Kunstfälscherskandals der Nachkriegsgeschichte geworden. Der Gerichtsprozess in den Jahren 1954 und 1955 sorgte bundesweit für Aufsehen. Die vergessen geglaubte „Malskat-Story“ ruft nun noch einmal die Auseinandersetzung um Wahrheit und Fälschung auf und wird für St. Marien zu einem Stück Vergangenheitsbewältigung.
Lübeck und der Meisterfälscher von St. Marien
Die Geschichte des Lothar Malskat in Lübeck beginnt im Juli 1948. Malskat klettert damals jeden Tag auf einem Gerüst in die Gewölbe von St. Marien, wo er zunächst im Langhaus und ab 1950 im Chor die Reste der alten Malereien aufarbeitet. Doch die Kirche kann nicht nur ein bisschen Farbe gebrauchen. Nach dem Bombardement in der Nacht zu Palmsonntag, in der britische Zerstörer Ende März 1942 den ersten Luftangriff auf Lübeck fliegen, brennt das Gotteshaus fast vollständig aus. Schnell werden Notdächer errichtet und das Mauerwerk gestützt. Die Restaurationen übernimmt die Lübecker Firma Fey. Geschäftsmann Dietrich Fey stellt Lothar Malskat ein, einen ostpreußischen Malergesellen, 1913 in Königsberg geboren. Die Hitze des Brandes hatte die Kalkfarbe abplatzen lassen, hinter der altgotische Wandmalereien aus dem 13. und 14. Jahrhundert, der Bauzeit der Kirche, sichtbar werden. Doch die Originale sind teilweise nur noch in undeutlichen Spuren zu erkennen. Im Gerichtsprozess wird Malskat später sagen, Fey habe ihm aufgetragen, er solle einfach alles schön ausmalen. So entstehen im Chor 21 Heiligenfiguren, allesamt Fantasiegebilde ihres Schöpfers.
Malskat und die 21 „Scheinheiligen“
Pünktlich zur 700-Jahrfeier der Grundsteinlegung von St. Marien im Spätsommer 1951 versammelt sich die lokale Prominenz. Auch Bundeskanzler Konrad Adenauer reist an und macht die Fresken in der Kirche zu einem Ereignis mit nationaler Bedeutung. Malskat jedoch wird mit keinem Wort erwähnt – und sinnt fortan auf Rache. Was keiner wusste: Er hat unzählige Leica-Filme verknipst, um den nackten Putz an den Wänden zu dokumentieren. So kann er beweisen, dass er Urheber der 21 „Scheinheiligen“ ist und erstattet im September 1952 Strafanzeige gegen Fey und im Oktober 1952 gegen sich selbst. Ein Gutachten von damals belegt, dass die Figuren im Chor einen schweren Fall von Kunstfälschung darstellen. Im November 1953 erhebt die Lübecker Staatsanwaltschaft Anklage. Die Presse weidet sich an der skandalträchtigen Story. Malskat, längst als Märtyrer stilisiert, wird am Ende zu einem Jahr und sechs Monaten, Fey zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis verurteilt.
Die wahre Tragödie des Lothar Malskat
Nach seiner Entlassung lebt Malskat in den 1970er- und 80er-Jahren in Wulfsdorf nahe Lübeck. Er besucht regelmäßig das Kunsthaus von Frank-Thomas Gaulin und Klaus Oestmann, das beide seit 1976 in der Hansestadt führen. Gaulin hat mehr als 20 Jahre als vereidigter Kunstsachverständiger gearbeitet. „Köstlich war das“, erinnert er sich. „Malskat kam immer mit einem Päckchen Kaffee zu uns. Dann setzte er sich auf die Treppe in der Diele und palaverte drauflos.“ Er kann nach seiner Zeit im Gefängnis als seriöser Künstler Fuß fassen, doch mit seinem Tod 1988 kommt die Bedeutungslosigkeit. „Heute gehen seine Bilder teilweise für ein Spottgeld weg“, so Gaulin. „So gut, wie er fälschen konnte, so war sein eigenes Werk doch mittelmäßig.“ Nicht wenige sagen, dies sei die wahre Tragödie im Leben des Lothar Malskat.

Die Kirche ist immer noch in dem Zustand, wie Malskat sie hinterlassen hat. Seine Relikte, Pflanzen, kleine Vögel, Drachenwesen, sind überall sichtbar und sollen, so die Lübecker Denkmalpflege, als die ‚Schicht Malskat‘ und ein Stück Zeitgeschichte erhalten bleiben. Pfeifer erzählt, dass bis 2030 u. a. geplant ist, alle Glasfenster auszubauen und zu überarbeiten. Darüber hinaus sollen die Orgellandschaft bewertet und konzipiert sowie ein Raum- und Akustikkonzept und eine neue Heizungsanlage geschaffen werden. „Wichtig zu wissen ist, dass die Maßnahmen zur Temperierung der Kirche kein Luxus, sondern eine absolute Notwendigkeit sind, um die wertvollen Kunst- und Kulturgüter in St. Marien erhalten zu können“, so Kreuzer.
Pfeifer sagt, Malskat sei der richtige Mann zur richtigen Zeit gewesen. Er sei permanent unterbewertet und brauche ein Denkmal in Lübeck. Pfeifer, der Geistliche, nimmt es mit dem Irdischen sehr genau. Malskat war also ein Künstler und kein Betrüger? „Ja, er wird zu Unrecht als Fälscher an den Pranger gestellt. Er hat der Kirche unglaublich viel geschenkt.“ Man wolle eine öffentlichkeitswirksame Erzählung entwerfen, die Teil von Kirchenrundgängen wird. St. Marien ist ein Touristenmagnet und lockt jährlich etwa 400.000 Besucher in die City. Und so hat die „Malskat-Story“ alles, was es für einen Skandal braucht: Es geht um Wahrheit und Fälschung, um Recht und Unrecht, um Schuld und Sühne. Ob am Ende auch die Moral von den Kirchenmauern blättert, muss freilich jeder Kirchenbesucher selbst entscheiden.