Was wäre wenn, und was könnte sein? Um solche Fragen dreht sich Saša Stanišić‘ Kurzgeschichtenroman mit dem schönen Titel „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“.
Die Geschichten spielen zwischen 1830, zur Zeit der französischen Revolution, als – historisch verbürgt – der Schriftsteller Heinrich Heine eine Badekur auf Helgoland macht und sich nach Frankreich träumt, und dem Jahr 2020, in dem der Berliner Professor Fatih Ozan im Einstein-Saal der TU Berlin eine Brezel isst und an den Weg zu seiner großen Erfindung denkt. Es geht um eine Zeitmaschine, dank der Menschen einen Blick in ihre eigene Zukunft werfen, sie sozusagen anprobieren können.
Sommertag unter Wolkenlosigkeit und Zecken
Mit dieser Idee der „Anprobe“ von Zukünften beginnt der Geschichten-Reigen. Fatih, der Ich-Erzähler Saša, Piero und Nico – lauter Migranten-Jungs, „auch du, Nico, deine Mutter ist DDR, das zählt“ – trödeln an einem Sommertag in den Weinbergen über Heidelberg herum, wobei Fatih sich die Zukunfts-Anprobe ausdenkt. Später liegen sie im Gras und besprechen „unter Wolkenlosigkeit und Zecken“, wer wohin in den Sommerferien reist. Wobei Saša behauptet, nach Helgoland zu fahren. Diese Reise taucht im späteren Verlauf des Buches wieder auf, wie auch andere Motive und Personen immer wiederkehren.

Der heiße Sommertag in den Weinbergen über Heidelberg spiegelt eigene Erfahrungen wider. Die Jugendsprache der Viererbande klingt authentisch, ebenso wie der Frust dieser Kindheit in der 90er Jahren und die Ahnung der „wahrscheinlichen Beschissenheit“ der eigenen Zukunft.
Täglich Eiergrog auf Helgoland
Um mehr oder weniger gut gelebte Leben, genutzte und ungenutzte Chancen geht es in den folgenden Geschichten. Da ist Dilek, die als Kind Ziegen in der Türkei hütete und als Erwachsene in Wien als Putzfrau arbeitet, mit einer Ziegenhaar-Bürste, die eine Arbeitgeberin ihr schenkte und sich großzügig fühlte. Doch auf einmal passiert etwas Fantastisches, wie es auch in anderen Geschichten Dinge jenseits der üblichen Realität gibt.
So findet sich Saša, der Ich-Erzähler, als Hauptfigur einer von einem Dritten geschriebenen Begebenheit auf, die auf Helgoland spielt. Dabei sieht Saša, die Figur, seinen Autoren durchaus kritisch. Der stürze seine Hauptfigur nicht nur in unangenehme Situationen – und zwingt ihn, täglich Eiergrog zu trinken, den er nicht mag – sondern macht, findet Saša, auch handwerkliche Fehler. So erklärt der Autor nicht, was die Lange Anna ist, um die Saša, die Protagonist, herumspazieren muss, und lässt zum Ärger des Protagonisten auch offen, welcher Vogel am Strand aufflattert.

Weiterhin treten auf: ein Panzerfahrer, Angela Merkel und natürlich die Titel gebende Witwe, die ihren verstorbenen Mann auf dem Friedhof besucht und darüber nachdenkt, spät im Leben noch einen neuen Aufbruch zu wagen.
Sommerleichter Roman mit vielen Fäden
Sprachlich sind die Geschichten in „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ wunderschön. Vielleicht gerade weil Saša Stanišić Deutsch erst als fast schon Jugendlicher gelernt hat, geht er besonders liebevoll mit der Sprache um, findet für jede Figur einen eigenen Tonfall.
Wenn etwa Gisel, die Witwe, über die Liebe nachdenkt: „Einem geliebten Menschen böse sein, sollte niemandem schwerfallen. Beide schweigen dann eine Weile, oder einer geht Holz hacken, der andere Zugvögel gucken, und schon hat man Kraft, um einander wieder wohlgesonnen zu sein.“ Oder Georg Horvath, der als Vater darunter leidet, dass sein Sohn viel besser Memory als er spielt, und in dessen „Kleiderschrank immer noch Hemden hängen, die er während seines Studiums getragen hat, also vor 25 Kilo“. Georg Horvath ist außerdem „jemand, der Dinge fast zwanghaft zu Ende bringt. Die Speisen auf seinem Teller, die Gedanken in seinem Kopf.“
Dieser Roman aus Kurzgeschichten ist einerseits ein sommer-leichtes Buch, das gut auf die Strohmatte am Strand von Helgoland oder anderswo passt. Das andererseits aber so viele Fäden aufnimmt, dass sich bei der einen oder anderen Geschichte ein zweites Mal lesen lohnt.

Der Band ist Ende Mai 2024 bei Luchterhand erschienen, 256 Seiten, ISBN 978-3-630-87768-6.
Saša Stanišić wurde 1978 in Visegrad, damals noch in Jugoslawien, geboren und kam mit seinen Eltern 1992 nach Deutschland. Heute lebt er in Hamburg. Er hat eine Reihe von Romanen veröffentlicht, die in 40 Sprachen übersetzt wurden.